Im Buddhismus heißt das grundsätzliche Leiden dukkha. Es lädt uns ein, Unbehagen zu beobachten, statt es zwanghaft zu beheben. Der Daoismus betrachtet Leiden als Ungleichgewicht; er lädt uns ein, uns wieder dem Dao anzunähern — nicht durch Kampf, sondern durch ein geschmeidiges Zurückfinden zur Harmonie.

 

Scham ist schmerzhaft und zutiefst peinlich

Scham zeigt uns an, dass wir von sozialen Normen abweichen, wurzelt in Angst und lässt uns nicht nur unser Verhalten, sondern unsere ganze Person als „schlecht“ erscheinen. Oft führt sie dadurch zu Abwehr, Aggression oder Ausgrenzung – etwa gegenüber Menschen mit Suchtproblemen oder solchen, die einfach anders sind. Doch anstatt Veränderung zu fördern, blockiert Scham sie.

Als ich in meiner Jugend eine schwere Phase durchlebte und mich deshalb zurückzog, hörte ich den Vorwurf: „Du willst ja gar keine Freunde haben.“ Diese Worte trafen mich ins Mark. Ich begann, mich für meinen Rückzug zu schämen. Erst später verstand ich: Mein Schweigen, mein innerer Kritiker und der Drang zum Rückzug waren in Wahrheit Schutzmechanismen. Sie wollten mich davor bewahren, erneut verletzt oder abgelehnt zu werden.

Im IFS-Modell gelten Scham, Perfektionismus und innere Kritik genau als solche schützenden Anteile. Sie verfolgen eine gute Absicht – auch wenn ihr Wirken schmerzt. Wenn wir ihnen mit Neugier und Mitgefühl begegnen, können wir heilsam mit ihnen arbeiten. Forschungen von Brené Brown und Peter Levine (siehe Übung unten) zeigen eindrücklich, wie Sprache, Empathie und Körperwahrnehmung dazu beitragen, Scham sichtbar zu machen und sie in Kraft zu verwandeln.

 

Scham ist kein Monster, das uns zerreißt

Scham ist ein Spiegel, der uns einlädt, genauer hinzusehen: auf unerzählte Kämpfe, auf verletzte Bindungen. Schon im frühen Leben entsteht Scham oft nicht durch Versagen, sondern durch das, was fehlt — gehalten zu werden, gesehen zu werden, Zugehörigkeit. Dieses Verstehen macht Scham zu einem heilsamen Tor: Wir erkennen persönliche und kollektive Verletzlichkeit und können sie benennen.

Mitfühlende Selbstbegegnung verändert den Körper: Atemrhythmus, Herzschlag und das Nervensystem finden wieder zu größerer Ruhe. Dieses Innehalten — die bewusste Wahl statt automatischer Reaktion — schafft Raum für echtes Wachstum. Hier beginnt die Rückverbindung zum authentischen Selbst: dem mitfühlenden Kern, der in jedem von uns ruht. Mit solcher Offenheit wird Mitgefühl ansteckend, können wir vertrauen, uns versöhnen — mit uns selbst, unseren Geschichten, unserer Verletzlichkeit. Scham verwandelt sich von einer Last zu einer Brücke. Neugier, Mitgefühl und echte Verbindung sind die Schlüssel, die diesen Wandel möglich machen.

 

Heilung ist wichtig

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Wunde und Narbe. Frischer Schmerz will gesehen werden. Wunden schreien, Narben flüstern. Emotionale Intelligenz bedeutet, zu erkennen, ob wir gerade aus der Perspektive einer Wunde oder einer Narbe sprechen. Bei einer Narbe müssen wir nicht mehr in die grausamen Details eintauchen. Wäre es noch eine Wunde, würden wir Bestätigung suchen, uns in äußerer Bestärkung verlieren, den Feed immer wieder aktualisieren. Doch manchmal müssen wir geduldig warten, bis unsere Geschichte zu einer Narbe geworden ist – bis sie flüstern kann. Und wenn alles andere versagt: Sei still. Nicht aus Scham, sondern aus Respekt. Heile zuerst. Sprich später.

Frage dich: Bin ich sicher? Wenn nein, suche Hilfe. Wenn ja, frage dich: Warum fühle ich mich so? Geh tiefer als nur zur oberflächlichen Ursache. Suche die wahre Quelle. Wir brauchen Räume, in denen keine Leistung gefordert wird; Orte, an denen wir einfach nur sein dürfen – in der Stille. In diesen Räumen können wir mit Präsenz die Narbe sehen, nicht die Wunde. Das ist Integration, Souveränität und verdienter Frieden. Das ist das Ziel.

Indem wir unsere Geschichten – auch mit Metaphern – neu erzählen, können wir uns von den Ketten der Scham befreien. In einem Raum der Verbundenheit und Heilung wachsen wir. Scham ist nicht das Ende der Geschichte, sondern der Anfang von etwas Tieferem: ein Tor, das uns zu mehr Selbstverstehen, Mitgefühl und wahrer Freiheit führt.

 

Nachspüren

Kontrolliere das Kontrollierbare — deine Reaktion. In dieser bewussten Reaktion liegen Disziplin, Präsenz und Resilienz. 

 

Podcast-Meditation Schamgefühle loslassen – eine Kontemplation zum Selbstmitgefühl

 

Gerald Blomeyer, Berlin am 18. September 2025

Vertiefe:
Scham – eine Tor zum Mitgefühl
Peinlich – Wenn wir vor Scham lügen 
Das Spiel mit Scham, Wut und Schuldzuweisung

Die Übung von Peter Levine zur Bewältigung von Scham konzentriert sich auf die Körperwahrnehmung. Scham manifestiert sich im Körper durch spezifische Haltungen: gesenkte Schultern, zusammengezogener Bauch, gebeugte Wirbelsäule. Um den Kreislauf der Scham zu durchbrechen, soll man diese Körperhaltung bewusst einnehmen und dann langsam, Schritt für Schritt, wieder aufrichten. Dabei geht es darum, den Körper zu dehnen und den Brustkorb zu öffnen, um das Gefühl von Stolz und Würde zu spüren. Diese Praxis hilft, die Scham zu überwinden und in eine Haltung von Selbstachtung und Mitgefühl für die eigenen Verletzungen zurückzufinden.

 

 

Image by Сергей Корчанов from Pixabay

 

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