Alle Emotionen, auch die unterdrückten und nicht ausgedrückten, haben körperliche Auswirkungen. Unausgesprochene Emotionen neigen dazu, wie kleine tickende Zeitbomben im Körper zu verbleiben – sie sind Krankheiten in der Inkubationszeit.“ – Marilyn Van Derbur, „Tagkind – Nachtkind: Das Trauma sexueller Gewalt“

Wut ist das Ergebnis eines Denkens, das von den Bedürfnissen abgekoppelt ist. Sie zeigt, dass wir uns entschieden haben, jemanden zu analysieren und zu beurteilen, anstatt uns darauf zu konzentrieren, welche unserer Bedürfnisse nicht erfüllt werden.“ — Marshall Rosenberg

 

Das Schamgefühl ist in der Literatur allgegenwärtig und wird von einigen als „Meisteremotion“ angesehen, als unsichtbarer Regulator unseres gesamten Gefühlslebens. Die aktuelle Forschung identifiziert Scham als wichtiges Element bei Aggression (einschließlich der Gewalttätigkeit von Frauenschlägern), bei Süchten, Besessenheit, Narzissmus, Depression und zahlreichen anderen psychiatrischen Syndromen.

 

Die Scham auflösen, indem wir ihr begegnen

Marilyn Van Derbur lebte das Leben einer Märchenprinzessin in der amerikanischen High Society. Außergewöhnlich klug, hübsch und begabt wurde sie mit 20 Jahren zur Miss America gekrönt. Niemand ahnte, dass sie schon als fünfjähriges Kind und dreizehn weitere Jahre lang von ihrem Vater, einem angesehenen Bürger Denvers, sexuell missbraucht wurde. Sie selbst hat das Grauen der Nächte aus ihrem Leben verbannt, dissoziiert. Doch Tag und Nacht leidet sie unter unerträglichen Schmerzen, Ängsten und Verhaltensweisen, die sie nicht versteht. Ihr Weg zur Heilung bestand aus einer Kombination von Therapie, Unterstützung durch die Familie, Selbstfürsorge und persönlichem Wachstum. Erst mit 53 Jahren konnte sie sich vollständig befreien, indem sie öffentlich bekannte: „Ich bin eine Inzestüberlebende.“ Das öffnete für unzählige Betroffene die Tür, zu lernen, sich ihrer Erfahrungen nicht zu schämen.

 

Kann Wut uns vor Scham schützen?

Scham, unabhängig vom Auslöser, kann sich mit anderen Emotionen verbinden. Wir können uns freuen, fürchten oder wütend sein und uns gleichzeitig schämen. Beschämte neigen zur Wut, sich Schämende zum Rückzug. Wenn wir schnell wütend werden, könnte hinter dem Ärger Scham sein. Wer Scham in sich trägt, neigt dazu, auf Kritik defensiv zu reagieren. Können wir nicht mit der Scham umgehen, laden wir unsere Wut als Vorwürfe ab. Die Wut lenkt von unseren schmerzhaften, versteckten Gefühlen ab, vergiftet jedoch Beziehungen. Das baut Barrieren auf und macht niemanden glücklich. Die getriggerte Person sehnt sich nach Mitgefühl, bekommt es aber nicht, wenn sie wütend ist. Die Wut landet oft bei der Person, der sie ihre wahren Gefühle anvertrauen und von der sie unterstützt werden möchte. In der klinischen Literatur wird dieser Zusammenhang anerkannt. Menschen, die unter Scham leiden, zu kritisieren, beschämt und provoziert sie. Sie werden wütend, um ihre Schamgefühle zu vermeiden. Sie wehren ab, um eine Schein-Sicherheit zu schaffen, damit die Scham nicht gesehen wird. Wut kann jedoch nur vorübergehend die Scham verstecken. Wer sich abschirmt, sieht die Dinge nur durch diesen Filter.

 

Warum schämen wir uns?

Langfristig hilft es, uns bewusst zu machen, warum wir uns schämen. Wenn wir uns über das Feedback einer Person ärgern, können wir hinzuschauen, ob sich dahinter ein Scham-Thema verbirgt. Indem wir die ersten Reaktionen auf schamhafte Situationen bemerken, können wir verhindern, dass der ganze Scham-Vorwurfs-Zyklus entsteht. Gerade in intimen Beziehungen kann Wut ein Schutzschild sein, das Scham verbirgt und eine authentischere Verbindung untergräbt. Was in der Vergangenheit passiert ist und uns immer noch verletzt, muss geheilt werden, kann aber nicht geheilt werden, wenn es immer von Wut verdeckt wird. Die US-amerikanische Autorin Brené Brown fasst zusammen : „Scham kann nicht überleben, wenn sie ausgesprochen wird. Sie kann Mitgefühl nicht überleben… Sie sehnt sich nach Geheimhaltung, Schweigen und Verurteilung. Wenn du still bleibst, bleibst du in einer Menge Selbstverurteilung.“ Wir brauchen also Selbstreflexion, um uns selbst und andere besser zu verstehen. Um Resilienz zu entwickeln, sollten wir die Dinge erkennen, die uns beeinflussen, so zu sein, wie es unserem wahren Selbst nicht entspricht. Dazu hilft es, uns an Menschen zu wenden, von denen wir glauben, dass sie uns wohl gesonnen sind. Wir brauchen Mitgefühl, um unsere Scham zu überwinden. Indem wir offen über unsere Scham sprechen, lernen uns selbst zu verstehen und können die Scham loslassen. Auch wenn wir die Scham niemals vollständig loswerden, können wir Resilienz entwickeln.
Am Montag werden wir die Meditation „Schamgefühle loslassen“ üben.


Nachspüren

Wir leiden, solange wir Scham als ein hässliches Geheimnis für uns behalten. Was ist passiert (wer, was, wo, wann, warum)? Wie hast du dich damals gefühlt? Wie fühlst du dich jetzt? Was, wenn überhaupt, glaubst du, dazu beigetragen zu haben, was passiert ist? Hast du bei stärkerer Selbstreflexion auch Scham erkannt?

 

Gerald Blomeyer, Berlin, im September 2023

Siehe auch Peinlich – Wenn wir vor Scham lügen und Scham – ein Tor zum Mitgefühl

 

Image by John Hain from Pixabay

 

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