„Die Essenz der Meditationspraxis ist es, alle Erwartungen an die Meditation selbst loszulassen.“ –Mingyur Rinpoche
Stabiler Geist
Anfangs fällt es uns schwer, unsere grundlegende Natur zu erkennen. In der Meditation gehen wir schrittweise vor, das zu ändern. Zuerst richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das, was wir denken, fühlen oder tun. Es gibt immer eine Person, die beobachtet, und etwas, das beobachtet wird. Wir üben Achtsamkeits- oder Shamatha-Meditation, um unseren geschäftigen Geist, bzw. Verstand zu beruhigen, geschmeidig und arbeitsfähig zu machen. Wir denken nicht über Dinge nach, sondern erfahren und erkennen direkt, wie unser Geist die Realität erschafft. Das erlaubt uns, unsere fixen Ideen und Ansichten loszulassen. In der Einsichts- oder Vipashyana-Meditation erkennen wir dann, dass alles als „Objekt des Geistes“ in der Stille des Bewusstseins erscheint und vergeht. Lassen wir uns auf diese Weite ein, erleben wir eine nicht fassbare Qualität des Geistes, die gleichzeitig erkennt bzw. „leuchtet“. Im tibetischen Buddhismus wird diese leuchtende Eigenschaft auch als „Leere“ bezeichnet, weil alles darin erscheinen und vergehen kann. In diesem Raum begegnen wir unserer grundlegenden Güte. Im Alltag bedeutet das, dass wir „wissen“, wenn wir etwas essen, dass wir etwas essen. Wir machen es uns nicht bewusst, da wir gewohnt sind, alles dualistisch als „etwas“ und nicht als „leer“ wahrzunehmen. Doch nehmen wir uns selbst als etwas Festes wahr, entstehen Hass, Gier und Unwissenheit, weil wir in diesem Zustand bewerten.
Die Nicht-Meditation
Wir meinen es gut: Mit einer dualistischen Sichtweise wollen wir Böses in Gutes umwandeln, Gier, Ärger und Unwissenheit durch Großzügigkeit, Freundlichkeit und Klarheit ersetzen. Aber so sehen wir nichts, wie es wirklich ist. Anstatt den kontinuierlichen Wandel zu sehen, halten wir fest, wollen alles kontrollieren und bewerten und schaffen so endloses Leid für uns und andere. Mit einer non-dualen Sicht dagegen ist alles, was auftaucht, weder gut noch schlecht. Es ist einfach so, wie es ist. Wir wollen unseren Geist nicht ändern, sondern uns bewusst sein, ob unser Geist glückselig oder besorgt ist. Ist er geschäftig, darf er wandern. Wir sind uns dessen bewusst, ohne uns dafür zu verurteilen. Wenn wir erkennen, wie flüchtig unsere Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen sind, können wir beginnen, in der Natur des Geistes zu ruhen. Weil wir nichts tun, sondern einfach nur sind, können wir uns auf das, was ist, einlassen. Dies wird auch als Nicht-Meditation bezeichnet. Wir können dann Angst, Freude oder Depression fühlen und uns dessen bewusst sein. Alles, was wir erleben, entsteht und vergeht in der leeren Weite des Gewahrseins. Das Negative, das uns und die Gesellschaft plagt, ist nur eine vorübergehende Verdunkelung unserer Natur und kein beständiger Teil dessen, was wir sind. Kein Sturm hat dem Himmel je geschadet.
Wer sind wir, wenn wir nicht urteilen?
Neben dem dualistischen normalen Gewahrsein, gibt es das meditative und schließlich das nicht-duale, reine Gewahrsein. Diese Kategorien sind nicht scharf voneinander abgegrenzt. Wir können das reine Gewahrsein flüchtig aufblitzen sehen oder uns darauf einlassen. Diese non-duale, erwachte Natur ist frei von Kategorien, Anhaftung und einem Selbst. Sie ist immer da, kann weder bekämpft noch erlangt werden. Nur der erwachte Herz-Geist erkennt, wie sie uns durchdringt und Gestalt annimmt. Wenn wir uns in den kontinuierlichen Prozess nicht einmischen, erkennen wir den Raum zwischen den vorbeiziehenden Gedanken. Im Gefühl der Weite sehen wir, dass wir schon immer von dieser Energie erfüllt waren. Indem wir alles annehmen, auch den Ärger, die Gier, die Unwissenheit, wird die Energie befreit. Die Phänomene verändern sich. Gier verwandelt sich in Mitgefühl und den Wunsch, sich zu verbinden. Unwissenheit verwandelt sich in die Erfahrung, tief in den Moment einzutauchen, so wie er ist, jenseits von Konzepten. Wenn wir nicht versuchen, das Leiden zu beseitigen, wird es als Teil unserer erwachten Natur sichtbar. Am Montag werden wir die Meditation Des Augenblicks gewahr sein üben.
Nachspüren
Höre entspannt in den Raum hinein. Merke, wie alle Klänge auftauchen und vergehen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Spüre, dass sich dein Geist ausdehnt und so weit wie der Himmel ist.
Zur Vertiefung: Mingyur Rinpoche über die Natur des Geistes
Gerald Blomeyer, Berlin 9. Mai 2023
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