Die Fantasie ist wie ein Schweizer Taschenmesser, das viele Werkzeuge enthält, die man benutzen kann, um zu öffnen, zu schneiden, zu untersuchen, um bei der Flucht zu helfen und um das Unerträgliche erträglich zu machen.“ – Neil Gaiman

Wenn ein Sportler sich den Erfolg vorstellt, erlebt sein Körper den Erfolg wirklich. Wenn wir uns etwas vorstellen, hat unser Körper das Gefühl, dass es wirklich passiert.“ – Dr. Bernie Siegel

Arguments don’t change minds, stories do.“ – Gregory Boyle
 
 
Die heilende Kraft von Geschichten
Als Kind brauchte ich nur ein Buch aufzuschlagen, um in eine andere Welt einzutauchen, in der alles möglich war. Enid Blytons „Fünf Freunde“ schenkten mir Freiheit, weil sie eigenständig waren und mir dadurch eine Flucht vor den verwirrenden Familiendramen boten. Ich bin mit Alice ins Wunderland gereist und mit Jules Verne zum Mittelpunkt der Erde. Aber auch die Abenteuer des „Gestiefelten Katers“ faszinierten mich. Es ging ums Überleben und um die Anerkennung amoralische Instinkte und geschicktes Argumentieren.
Während meines Praktikums in einem Architekturbüro 1969 in Basel habe ich mit Walter zusammengelebt, der am Max-Reinhardt-Seminar studierte. „Menschen wollen nur gute Geschichten hören, nicht die Wahrheit“, sagte er oft. Wenn er bemerkte, dass er die Aufmerksamkeit vieler hatte, sprach er leiser, und die Menschen rückten zusammen.
 
Die therapeutische Wirkung von Geschichten
Geschichten helfen uns, Gefühle auszudrücken, auch solche, die wir selbst nicht erlebt haben, und ermöglichen es uns, durch die Augen anderer zu sehen. Sie regen unsere Vorstellungskraft an und werden zur Quelle von Hoffnung und Inspiration, sie helfen uns, schwierige Situationen zu meistern. Die Praxis der Bibliotherapie, bei der Lesen und Schreiben therapeutisch eingesetzt werden, unterstützt uns in Krisenzeiten dabei, unsere Erfahrungen zu verarbeiten und unsere Resilienz zu stärken. Geschichten können uns unterhalten und sind gleichzeitig kraftvolle Werkzeuge zur Heilung und Selbstfindung. Sie können uns dabei helfen, unsere Herausforderungen zu bewältigen und uns mit der Welt zu verbinden.
Jean-Paul Sartre unterscheidet in seinem Werk „L’imaginaire“ zwischen der statischen Qualität des wahrnehmenden Sehens und der dynamischen Art, in der wir Dinge in unserer Vorstellung rekonstruieren. Unser „imaginierendes Bewusstsein“ (conscience imageante) ist „offen“ und nicht an konkrete Realitäten gebunden, was dem Vorstellen eine radikale Freiheit verleiht.
 
Sich erinnern oder sich etwas vorstellen?
Die westliche Philosophie und die moderne Neurobiologie haben erkannt, dass Vorstellungskraft und Wahrnehmung dicht beieinanderliegen. Uns etwas vorzustellen unterstützt uns dabei, uns zu verändern und weiterzuentwickeln. Aus buddhistischer Sicht gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen unserer Natur und der von Buddha. Erscheinungen sind aus dieser Perspektive der natürliche Ausdruck der „großen leeren ursprünglichen Reinheit“. Um das zu erfahren, gilt es, das hartnäckige Festhalten unseres Geistes an der Vorstellung von „Ich und Andere“ aufzulösen. Indem wir Geisteswelten als Reine Länder visualisieren, die scheinbar so real sind wie unsere eigene „wahrgenommene“ Welt, lassen wir allmählich das Festhalten an unseren falschen Vorstellungen von Realität los. Anschließend zerstören wir diese Vorstellung, indem wir sie in die Leerheit auflösen.
Es ist paradox, dass wir, um die Leere zu erkennen, uns bevölkerte Reine Länder vorstellen. Tatsächlich helfen uns diese visualisierten Mandalas und Meditationsgottheiten, mit Fantasie unsere Denkgewohnheiten zu überwinden. Uns selbst als erleuchtetes Wesen zu visualisieren, gilt als ein geschicktes Mittel, um erwachte Erkenntnis zu erlangen.
 
Nachspüren
Erinnere dich an etwas, das dir wichtig war, das du vor Veränderungen bewahren wolltest. Warst du erfolgreich oder unglücklich? Woran hältst du heute fest? Kannst du deine Sicht ändern und dir eine Transformation vorstellen?
 
Gerald Blomeyer, Berlin am 4. September 2024
 

Zur Verteifung:
Heilsames Zuhören
Meditation macht den Geist kreativ 

Zum Bild: Buchcover Irgendwo in Tibet von Richard Teschner.  Der 1933 erschienener Roman (OT: Lost Horizon) des britischen Schriftstellers James Hilton war ein internationaler Bestseller. Im Mittelpunkt der Handlung steht Shangri-La, ein fiktiver Ort in Tibet, wo Menschen in Frieden und Harmonie leben.
Der Film von Frank Capra ist im Internet: Lost Horizon (restored, colorized, 1937, fantasy, imdb score: 7.7)

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