Rufe mich bei meinen wahren Namen,
damit ich erwachen kann
und die Tür meines Herzens offenbleibt –
die Tür des Mitgefühls.“
– 
 Thich Nhat Hanh, Please Call Me by My True Names

 

Das Trauma ist nicht das Ereignis selbst, das passiert. Das Trauma ist, wie man darauf reagiert. In dem Ausmaß, in dem man traumatisiert ist, mobilisiert sich der Körper weiterhin, um zu kämpfen.“ – Bessel van der Kolk, Psychiater

 

Das Leben als Zelle oder Kristall

Im Kopf zu leben heißt, wie ein Kristall zu sein – klar, fest, abgeschlossen. Vom Herzen zu leben aber heißt, wie eine lebendige Zelle zu sein: wandelbar, wachsend, stets in Bewegung. Unsere Identität ist kein fertiges Gebilde, sondern ein fortwährender Prozess. Wahre Kreativität entspringt nicht der Perfektion, sondern der Erneuerung. Sie zeigt sich überall – im Alltag, in unseren Beziehungen, in den Geschichten, die wir erzählen.

Nichts ist endgültig. Alles bleibt im Werden. Der Kosmos ist Bewegung, und das Leben selbst ist ständiger Wandel. Unsere größte Kunst besteht darin, Mitgefühl zu leben und das Fließende zu erkennen – das Unausgesprochene zwischen den Zeilen, das Lebendige jenseits der Form. Nicht fertig sein, sondern lebendig bleiben – das ist die wahre Schönheit des Lebens.

 

Dem Moment spontan begegnen

Ich merke, dass ich in schwierigen Momenten oft innerlich zumache – besonders, wenn Beziehungen zerbrechen oder Konflikte entstehen. Dann versuche ich, stark zu bleiben oder die Kontrolle zu behalten. Doch innerlich fühle ich mich hart und abgeschnitten. Es fällt mir schwer, den Moment wirklich zuzulassen.
Meine Antwort darauf ist, mich darin zu üben, dem Augenblick offener und spontaner zu begegnen – auch wenn er schmerzt. Ich erlaube mir, mich berühren zu lassen, statt innerlich in Widerstand zu gehen. Wenn ich mein Herz nicht verschließe, sondern mich dem Schmerz hingebe, entsteht etwas Weiches in mir. Und genau in dieser Weichheit öffnet sich ein neuer Raum – liebevoller, weiter, weniger festgefahren.

In diesem Raum beginnt sich die Grenze zwischen „Ich“ und „Welt“ aufzulösen. Ich erkenne: Alles ist miteinander verwoben. Das Leben ist ein Gewebe aus purem Sein – und aus Liebe. In dieser Erfahrung wird es möglich, das ständige Identifizieren loszulassen. Ich lasse los, wer ich glaube zu sein – und heiße alles willkommen: ob es die ganze Welt ist oder eine riesige Welle aus Liebe.

 

Das offene Herz

Wenn wir diese Liebe in unserem Herzen spüren, können wir endlich erkennen, was das Leben wirklich für uns bereithält – selbst mitten in Schmerz und Chaos. Schmerz mag da sein, aber er hat keine Macht mehr über uns. Im Buddhismus sagt man: Schmerz gehört zum Leben – Leiden ist optional. Wer sich gegen Schmerz und Traurigkeit wehrt, leidet. Aber wenn unser Herz offen und weich bleibt, hören wir auf zu kämpfen. Erst in diesem Nicht-Kämpfen können wir plötzlich eine tiefe Zärtlichkeit spüren: Mitgefühl. Dankbarkeit. Wir merken: Genau jetzt – in diesem Augenblick – leben wir.

Das Herz zu öffnen heißt, den Widerstand aufzugeben. Und wenn das geschieht, kehrt die Schönheit zurück – nicht glatt und makellos, sondern mit einem Hauch von Schmerz. Wir müssen nichts mehr bekämpfen. Der Anfang besteht nicht darin, gegen das, was ist, zu kämpfen, sondern die Wahrheit anzunehmen.

 

Nachspüren

Was heißt es für mich, nicht fertig zu sein, sondern lebendig zu bleiben? Was geschieht in mir, wenn ich aufhöre zu kämpfen und die Wahrheit erst annehme und dann willkommen heiße?

 

Podcast Meditation Mitgefühl – Das Licht der Liebe

 


Gerald Blomeyer, Berlin am 3. Oktober 2025

 

 

Foto von Dominik Scythe auf Unsplash

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