H.G. Wells und Rebecca West (The Marginalian)
„Es ist die Aufgabe des Geistes, den eigenen Sehnsüchten treu zu bleiben. Er muss sich der beherrschenden Leidenschaft hingeben.“
– Rebecca West
„Lass deine Liebe stärker sein als deinen Hass oder Zorn. Lerne die Weisheit des Kompromisses, denn es ist besser, sich ein wenig zu beugen, als zu zerbrechen.“
– H. G. Wells„In der Liebe entsteht das Paradox, dass zwei Wesen eins werden und dennoch zwei bleiben.“
– Erich Fromm
Das Bild im Kopf – und der Mensch dahinter
Manchmal treffen wir jemanden und spüren: Den mag ich. Ich fühle mich wohl mit ihr. Und manchmal reagieren wir gar nicht auf den Menschen, sondern auf die Geschichte, die wir uns über ihn erzählen.
Können wir den anderen so sein lassen, wie er oder sie ist – lebendig, widersprüchlich, sich ständig verändernd? Oder sehen wir nur unsere Vorstellung, eine Projektion, eine Erinnerung?
Menschen sind keine Dinge. Wir sind Bewegung – wie Flüsse, wie Musik, wie Tanz. Wir verändern uns ständig, ob wir wollen oder nicht. Und doch klammern wir uns an unsere inneren Bilder: von uns selbst, vom anderen, von „uns“. Diese Bilder geben uns Halt. Aber was passiert, wenn sie nicht mehr stimmen – wenn der Mensch, den wir lieben, sich plötzlich anders verhält? Dann zerbricht etwas. Und zurück bleiben Schmerz, Verwirrung, vielleicht auch Angst. Und ganz leise taucht sie auf: diese eine Frage, die uns nicht mehr loslässt. Wer bin ich, wenn der andere sich verändert – oder wenn er sich gar nicht erst einlässt?
Den anderen sein lassen, wie er ist
H. G. Wells (1866–1946), gefeierter britischer Autor von Die Zeitmaschine und Krieg der Welten, war klug, frei und begehrt.
Rebecca West (1892–1983), 26 Jahre jünger, eine furchtlose britische Journalistin mit scharfem Verstand, begegnete ihm zuerst als Kritikerin – und wurde bald seine Geliebte.
Was als funkelnde Begegnung zweier Geister begann, wurde zum Ringen um Freiheit und Identität.
Vielleicht hielten sie ihre Rollen lange für Liebe: Er, der große Denker; sie, die bewundernde Intellektuelle – bis sie begann, mehr zu wollen als nur Figur in seiner Geschichte zu sein. Als sie eigene Worte fand, eigenen Zorn, eigene Wahrheit, geriet ihr Tanz aus dem Takt. Für ihn war das eine Bedrohung. Für sie – ein Erwachen.
Als er floh, blieb sie zurück – verletzt, frei und lebendig. Und genau dort, im Schmerz und in der Einsamkeit, atmete sie zum ersten Mal Liebe – nicht zu ihm, sondern zu sich selbst. Weil sie sich nicht länger kleiner machte, um geliebt zu werden. Weil sie sich selbst erlaubte, zu sein, wer sie war. Aus der unkonventionellen Romanze und dem Liebeskummer wurde eine lebenslange Freundschaft.
Sie bekam sein Kind ohne ihn – und wurde später selbst eine gefeierte Schriftstellerin, 1959 geadelt zur Dame Rebecca West.
Liebe beginnt mit „Ich liebe dich“ – und geht weit darüber hinaus
Lieben beginnt dort, wo keiner mehr wissen muss, wer der andere sein soll – sondern einfach nur sieht, wer da ist. Und bleibt. Auch wenn das Bild sich ändert. Für die erste große Liebe bedeutet das, sich gegenseitig zu entdecken, ohne den anderen zu formen. Für das Hochzeitspaar, das sich das Ja-Wort gibt, heißt es: Ich wähle dich – immer wieder neu. Für jene, die fünfzig Jahre Ehe feiern, bedeutet es, gemeinsam zu wachsen, ohne einander festzuhalten. Und für die, die sich trennen, heißt es oft schmerzhaft: Ich lasse dich los – damit du du selbst sein kannst.
In einem Augenblick stiller Präsenz können wir den anderen klarsehen – ohne Geschichte, ohne Urteil, ohne Bedürfnis. Da beginnt etwas, das sich nicht mehr benennen lässt. Denn jedes Wort würde wieder ein Bild daraus machen. Wir müssen es fühlen. Es reicht, es zu leben – ohne festzuhalten, zu greifen oder zu wissen. Um diesen Raum zu betreten, braucht es etwas in uns, das trägt: Selbstliebe und Selbstvertrauen. Sie sind die leisen Wurzeln, die uns im Wandel halten. Wenn alles sich verändert – die Welt, die Menschen, wir selbst – sind sie es, die uns erinnern, dass wir schon vollständig sind, auch mitten im Werden.
Lieben braucht nichts, will nichts, erwartet nichts. Sie sagt nicht: Bleib so, wie du bist. Sie flüstert: Sei, wer du bist – jetzt. Und in genau diesem Raum, in diesem kleinen, stillen Augenblick, dürfen wir uns wirklich begegnen. Nicht als Bilder. Sondern als Menschen.
Nachspüren
Was wäre, wenn du den Menschen vor dir nicht durch die Linse deiner Erinnerungen oder Wünsche betrachtest – sondern einfach nur siehst, was gerade ist?
Kannst du lieben, ohne zu halten, ohne zu formen, ohne zu wissen – einfach nur, weil da jemand ist?
Podcast-Meditation Du bist die Liebe – Yoga Nidra
Gerald Blomeyer, Berlin am 20. Oktober 2025
Angeregt von Richard Flanagan „Question 7“ und vertieft in Maria Popova.