„Wenn wir über all die vielen kleinen Ursachen und Wirkungen nachdenken, die sich zu dem verflechten, wie sich die Welt entfaltet, wird es nahezu unmöglich, sich vorzustellen, dass wir völlige Kontrolle haben. Dieser Wahn des Individualismus, der uns glauben lässt, wir hätten die Dinge im Griff – Dinge, die wir nicht kontrollieren können –, verblasst, wenn wir erkennen, dass die Welt schlichtweg unkontrollierbar ist.“ – Brian Klaas, amerikanischer Professor für Politik an der Universität London
Kreativ sein: Ordnung im Chaos finden
Kreativität ist die Kunst, Ordnung im Chaos zu schaffen. Manchmal landen wir einfach mittendrin – und manchmal rufen wir das Chaos bewusst herbei, weil wir wissen: Nur so entstehen neue Ideen. Wenn meine Arbeit schal wird, wenn ich mich langweile, dann weiß ich: Es ist Zeit, das Chaos einzuladen. Andere nennen das vielleicht Drama. Aber wenn nichts passiert, fühle ich mich nicht wirklich lebendig.
Ich liebe es, Menschen zu beobachten und sie sanft anzustupsen, damit sie inmitten des Durcheinanders neue Lösungen entdecken. Denn Kreativität ist zutiefst menschlich. Wenn sie fehlt, fehlt uns etwas Wesentliches. „Alles ist möglich“, sagen wir – und genau das wird spürbar, wenn wir uns erlauben, nicht zu wissen.
Denn Kreativität beginnt oft mit einem simplen Geständnis: „Ich weiß gar nichts.“ Dann stellen wir die wichtigste aller Fragen: Was wäre, wenn …? Wir hören auf zu planen, lassen die gewohnten Routen liegen und fangen an zu experimentieren. Das bringt uns in eine Haltung der Möglichkeit. Wir erschaffen Chaos – ganz bewusst – und genau dort entsteht sie: die innere Einstellung, dass wirklich alles möglich ist.
Ich könnte einfach weitermachen wie bisher. Meine Meditationen teilen, meine Geschichten erzählen, Menschen unterstützen, die einen Perspektivwechsel suchen. Meine „Greatest Hits“ sozusagen. Aber tief in mir weiß ich: Das reicht nicht. Um den Puls meiner Arbeit zu spüren, brauche ich Freiraum. Raum zum Scheitern. Raum, um auf die Nase zu fallen. Denn genau dort, wo wir ins Wanken geraten, entstehen diese magischen Momente, die nicht planbar sind. Wenn ich das nicht mehr tue – wenn ich nur noch wiederhole, was funktioniert – dann ersticke ich innerlich.
Ganzheit erleben
Was uns dabei trägt, ist das Erleben von Ganzheit. Wir meditieren nicht, um ganz zu werden, sondern um unsere bereits vorhandene Ganzheit wiederzuentdecken. Jede Meditationssitzung entspringt diesem inneren Wissen: Wir sind nicht getrennt – nicht von unserem Körper, nicht von der Welt, nicht von uns selbst. Meditation hilft uns, Körper, Geist und Sinne in ihren natürlichen Zustand zurückzuführen. Sie macht uns nicht neu – sie macht uns wahrhaftig.
Oft erleben wir uns als einzelnes, isoliertes Ich – das versucht, mit Gedanken, Gefühlen und körperlichen Empfindungen irgendwie klarzukommen. Doch manchmal erleben wir auch etwas Tieferes: ein inneres Wissen, das immer verbunden ist. Ein Aspekt von uns, der nie verletzt wurde, der keine Heilung braucht. Ein Teil, der in sich ganz ist – unabhängig davon, was wir erlebt haben.
Das ist die Quelle, aus der wahre Heilung geschieht. Nicht, indem wir etwas „reparieren“, sondern indem wir uns an diesen unversehrten Kern erinnern.
Wenn wir uns gebrochen fühlen – wie finden wir dann zurück in dieses Gefühl von Ganzheit? Indem wir uns nicht länger nur mit unserem Schmerz identifizieren. Indem wir spüren: Ganzheit ist immer da. Es fühlt sich an wie nach Hause kommen. Und aus dieser Erfahrung heraus können wir selbst unseren schlimmsten Ängsten begegnen – mit Mitgefühl und Mut.
Gegensätze halten – Stille finden
Um in diese Ganzheit hineinzufinden, hilft es, Gegensätze zu erforschen – auf ganz direkte, körperliche Weise. Wir beginnen bei unserem autobiografischen Selbst – jenem Teil in uns, der von der Vergangenheit geprägt ist und in gewohnten Denk- und Bewertungsschleifen kreist. Gleichzeitig besitzen wir die Fähigkeit, uns davon zu lösen, still zu werden, zu beobachten.
In der Stille beobachten wir, wie sich unsere Aufmerksamkeit ganz von allein bewegt – von einer Körperempfindung zu einem Gedanken, zu einem inneren Bild, dann wieder zurück. Manchmal lenken wir unsere Aufmerksamkeit auch bewusst – und finden Klarheit. Alles ist miteinander verbunden.
Wenn wir diesen Raum der Wahrnehmung betreten, öffnen wir uns für neue Einsichten – jenseits alter Denkstrukturen. Dann entsteht ganz von selbst ein Zustand von Gleichmut, Wohlbefinden und innerem Frieden.
Nachspüren: Ganzheit
Nimm dir einen Moment Zeit, dort wo du gerade bist – mit offenen oder geschlossenen Augen. Lenke deine Aufmerksamkeit in deine rechte Hand. Spüre das Pulsieren, das Vibrieren. Dann richte deine Aufmerksamkeit auf die linke Hand. Und schließlich spüre beide Hände gleichzeitig. Vielleicht bemerkst du, wie das Denken leiser wird – denn wir können nicht gleichzeitig voll spüren und voll denken.
Nun bringe deine Aufmerksamkeit zur linken Seite deines Körpers – Bein, Rumpf, Arm, Gesichtshälfte. Dann zur rechten Seite. Schließlich spüre beide Seiten gleichzeitig.
Weite dann deine Aufmerksamkeit aus – auf den Raum um dich herum: vorne, hinten, zu den Seiten. Lass die Wahrnehmung weit werden. Dann verenge sie wieder auf deinen Körper. Und schließlich halte beides gleichzeitig: die Empfindung im Körper und den Raum um den Körper.
Indem du lernst, diese einfachen Gegensätze zu halten, erkennst du:
Der denkende Geist beruhigt sich. Stille wird spürbar. Und mit ihr: Ganzheit.
Podcast-Meditation Gegensätze als Einheit erleben
Gerald Blomeyer, Berlin 9. Juni 2025
Foto (c) Tom Pingel, Sankt Peter-Ording 2025