„Niemand hat dir jemals mehr wehgetan als du dir selbst. Erinnerst du dich an den Kommentar, den dein Vater einmal über einen schwierigen Freund gemacht hat? Er sagte: ‚Wir sind alle unsere schlimmsten Feinde, aber bei manchen Menschen ist es ein bisschen offensichtlicher.‘“ – Elizabeth Gilbert, amerikanische Autorin
„Angst“ und „Sich fürchten“ – zwei Arten, um uns vor Bedrohungen zu schützen
Als ich eines Abends mit dem Auto auf eine rote Ampel zufuhr, raste plötzlich ein anderes Fahrzeug von der Seite in mein Sichtfeld. In diesem Moment ergriff mich die Angst – mein Körper reagierte sofort, ich bremste scharf, wich aus und atmete tief durch. Es war ein klarer, schneller Reflex, der mich vor einer unmittelbaren Gefahr bewahrte.
„Sich fürchten“ dagegen ist wie ein ständiger Begleiter, der uns über längere Zeit belastet. Ein Beispiel: Als ich mich vor einer wichtigen Präsentation fürchtete, konnte ich nicht aufhören, mir vorzustellen, was alles schiefgehen könnte und wie ich mich lächerlich machen würde. Aber das war nur eine Vorstellung – nicht das, was wirklich passierte. Es war keine akute Gefahr, aber sie lähmte mich, hielt mich in einer Spirale aus Sorgen und Gedanken gefangen. Die Furcht ist mein innerer Kritiker, der mir Grenzen setzt und mir erzählt, dass etwas Schreckliches bevorsteht.
Angst ist ein Instinkt, der uns hilft, im Augenblick zu reagieren, wenn es notwendig ist. Die Furcht hingegen erzählt eine Geschichte, die uns in die Vergangenheit oder Zukunft zieht, uns lähmt und die Gegenwart verblassen lässt. Sie ist eine Lüge, die uns vorgaukelt, dass etwas droht, was noch gar nicht existiert. Wir können die Kontrolle nicht über alles haben. Der wahre Weg besteht darin, mich auf den Moment zu konzentrieren, auf das, was wirklich vor mir liegt – ohne mir ständig vorzustellen, was schiefgehen könnte.
Die Weisheit von Thích Nhất Hạnh
Thích Nhất Hạnh (1926-2022), der buddhistische Meister und Friedensapostel, lädt uns in seinem Buch Fear: Essential Wisdom for Getting Through the Storm ein, das Fürchten nicht als Feind zu betrachten, sondern als eine Gelegenheit, unser inneres Gleichgewicht zu stärken. Durch Achtsamkeit und Meditation können wir lernen, unsere Furcht anzunehmen, ohne von ihr beherrscht zu werden. Er empfiehlt, den Atem als Anker zu nutzen, um im Moment präsent zu bleiben und die negative Energie der Furcht zu transformieren.
Das betrifft auch den Streit mit anderen. Thích Nhất Hạnh betont, dass wir bereit sein sollten, zuzuhören und zu versuchen, diese Kräfte zu verstehen. Die Korrektur unserer falschen Wahrnehmungen ist dabei ein Akt der Selbstfürsorge. Er rät: „Wenn du dir die Zeit nimmst, zuzuhören und die andere Seite der Geschichte zu hören, wird dein Verständnis wachsen und dein Schmerz wird kleiner.“ Echte Kommunikation bedeutet, wirklich zuzuhören, um zu erkennen, ob wir uns vielleicht in einem gigantischen Missverständnis befinden.
Thích Nhất Hạnh schlägt eine weitere „Superkraft“ vor: liebevolles Sprechen. „Wenn wir wirklich die Wahrheit lernen wollen und wissen, wie man mit sanften Worten und tiefem Zuhören kommuniziert, hören wir die ehrlichen Wahrnehmungen und Gefühle des anderen viel eher.“ Indem wir mit unseren Verletzungen achtsam umgehen, haben wir die Chance, unsere Ängste und Wut in eine tiefere, ehrlichere Verbindung zu verwandeln.
In Frieden kommunizieren
Das Ziel von tiefem Zuhören und liebevollem Sprechen ist es, die Kommunikation wieder zu beleben. Wenn wir uns wirklich Zeit nehmen, die Perspektive des anderen zu hören, öffnen sich plötzlich Türen, von denen wir gar nicht wussten, dass sie existieren. Und plötzlich merken wir: Der andere leidet auch. Wir sind nicht die Einzigen, die mit der Situation kämpfen – der andere steckt wahrscheinlich genauso im Dilemma. Und wenn wir das verstehen, können wir ihm mit Mitgefühl begegnen. Wenn unser Verständnis wächst, ändert sich alles, und wir können wieder miteinander reden.
Der wahre Friedensprozess beginnt nämlich direkt bei uns – wir müssen den Frieden in uns selbst üben, bevor wir ihn in der Welt um uns herum verbreiten können. Und vielleicht wird der nächste Konflikt dann doch etwas weniger chaotisch.
Nachspüren
Welche Geschichten erzähle ich mir selbst über die Situation? Wie verzerrt diese Sicht meine Wahrnehmung?
Podcast-Meditation Die Angst vor dem Unbekannten
Gerald Blomeyer, Berlin am 17. Januar 2025
Abbildung Buchtitel