Jugend ist wie Most. Der lässt sich nicht halten. Er muss vergären und überlaufen.“ – Martin Luther (1483-1546), deutscher Augustinermönch und Theologieprofessor

Wenn wir aufhören, etwas festzuhalten, leiden wir nicht an deren Vergänglichkeit. Indem wir loslassen, können wir Frieden und Leichtigkeit in einer Welt des Wandels finden.“ – Gil Fronsdal, gebürtiger Norweger, amerikanischer buddhistischer Lehrer

 

Wir sehnen uns nach dem Bleibenden

Als Jugendlicher in Wellington, Neuseeland, bemerkten meine Mitschüler, dass sie sehen konnten, wie ich wuchs – fast von Tag zu Tag. Meine Schwester scherzte, dass ich für zwei aß. Ich ruderte, trainierte, und in kürzester Zeit formte sich mein Körper: stark, geschmeidig, ein Athlet. Mein Ehrgeiz war grenzenlos – ich wollte im Achter über 2000 Meter Regatten gewinnen, Medaillen holen, Ruhm ernten. Sechzig Jahre später ist davon nichts mehr übrig: mein Körper, meine Ziele, meine Gedanken, meine Gefühle – alles vergangen.

Buddha vergleicht die phänomenale Welt mit einer Sternschnuppe, einer optischen Täuschung, einem Traum, mit Wolken, die sich am Himmel ständig formen und auflösen. Alles, was wir erleben, ist flüchtig und unwirklich, stets im Wandel. Wenn wir uns dieser Flüchtigkeit voll bewusst werden, „erwachen“ wir – wie aus einem Traum, in dem wir uns fälschlicherweise als fest umrissene Persönlichkeit wähnen. Was dann bleibt, ist ein Feld unendlicher Möglichkeiten, eine unerschöpfliche Quelle von Glückseligkeit, Liebe und Intelligenz. Und erst dann wird das Leben wirklich spannend – und macht Freude.

 

Ich glaubte, die Summe meiner Erinnerungen, Erfahrungen und Hoffnungen zu sein

Doch was, wenn ich etwas viel Größeres – oder vielleicht etwas viel Einfacheres – bin? Ein Tanz der Energie vielleicht? Heute sehe ich meine Gedanken wie Wolken, die am Himmel vorüberziehen. Ich bin nicht diese Gedanken, sondern der stille Beobachter, der sie bewusst wahrnimmt. Und in dieser Erkenntnis liegt eine tiefe, befreiende Wahrheit: Wir sind nicht unsere Geschichten. Wir sind das Leben selbst – fließend, wandelbar, grenzenlos.

Buddha lehrte, dass das „Ich“, das wir so sorgsam behüten, zur Schau stellen und verwöhnen, nur ein Zusammenspiel von Empfindungen, Gefühlen und Gedanken ist. Es entsteht und vergeht, verändert sich unaufhörlich. Und doch klammern wir uns daran, als hinge unser ganzes Sein davon ab.

Aber was geschieht, wenn wir genauer hinsehen und die Vergänglichkeit akzeptieren? Das Problem liegt nicht in den Dingen selbst, sondern in unserem Festhalten an ihnen. Was wäre, wenn wir loslassen könnten? Wenn wir den Vogelgesang genießen, ohne ihn festhalten zu wollen? Wenn wir Ärger spüren, ohne uns von ihm definieren zu lassen?

 

Eine neue Perspektive

Unsere Gedanken, Gefühle und Empfindungen sind flüchtig und können uns kein dauerhaftes Glück schenken. Sie sind nicht „wir“. Unser Körper ist einfach da, ohne dass wir ihn als „mein“ bezeichnen müssen. Wäre es befreiend, wenn wir unsere Gedanken kommen und gehen lassen, ohne uns mit ihnen zu identifizieren?

Wenn wir erkennen, dass nichts wirklich uns gehört, können wir den ständigen Kampf loslassen und das Leben leichter genießen. Wenn wir aufhören, uns an Vergänglichem festzuhalten, finden wir eine tiefe Ruhe, die alles übertrifft, was wir je gesucht haben. Indem wir die vergängliche Natur von allem annehmen, können wir ein tieferes Gefühl von Dankbarkeit, Mitgefühl und innerem Frieden entwickeln. Das ist der wahre Weg zum Glück, so lehrte Buddha.

 

Nachspüren

Nimm dir heute einen Moment Zeit. Höre den Vogelgesang, spüre deinen Atem. Beobachte, wie Dinge kommen und gehen, ohne sie zu bewerten. Vielleicht entdeckst du, dass du nicht der Tänzer bist, sondern der Tanz selbst – immer in Bewegung, immer im Wandel. Und genau das ist das größte Geschenk: Freiheit.

Gerald Blomeyer, Berlin am 16. Dezember 2024

 

Image by Herman Vyverman from Pixabay

 

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