Der ungebetene Gast
Schmerz ist der Gast, den niemand eingeladen hat und den doch jeder irgendwann beherbergen muss. Er ist spürbar und wartet, dass wir hinsehen – wirklich hinsehen. Manchmal ist er leise, wie ein Flüstern, das durch einen einsamen Raum hallt. Und manchmal schreit er, bis wir glauben, nicht mehr atmen zu können. Doch eines ist sicher: Schmerz fordert uns heraus, ihn nicht zu ignorieren, sondern uns mit ihm auseinanderzusetzen.
Die Lektionen der Liebe
1992: Ich liebte sie. Eva Etta. So klar und mit einer Tiefe, die fast beängstigend war. Aber acht Monate lang war alles, was ich hörte, ein Nein. Ein Nein, das mich zerriss, das mich lehrte, dass Liebe manchmal nicht genügt, um eine Tür zu öffnen, hinter der sich jemand eingeschlossen hat. Doch dann, eine Woche nachdem ich ging, stand sie da. Plötzlich war alles möglich.
Zwölf Jahre später, als sie starb, fühlte es sich an, als hätte das Universum beschlossen, mir erneut alles zu nehmen. Der Schmerz war bodenlos. Er war eine Flut, die mein Leben in Berlin mit sich riss und mich in eine ferne Welt spülte. Indien, Nepal – Länder, die nicht nur geografisch weit entfernt waren, sondern auch von allem, was ich bis dahin gekannt hatte. In der Fremde lernte ich, dass Schmerz nicht das Ende ist, sondern ein Anfang.
Wachstum durch Schmerz
Schmerz ist unbequem. Er zieht uns in Ecken, die wir vermeiden wollten, zwingt uns, zu wachsen, auch wenn wir glauben, wir könnten es nicht. Aber in diesem Wachstum liegt eine Wahrheit: Wir sind mehr, als wir denken. Wir sind fähig, uns selbst zu halten, wenn niemand sonst es tut. Schmerz ist ein Lehrer, ein Katalysator, der uns dazu zwingt, unsere verborgenen Stärken und Ressourcen zu entdecken. Veränderung – oft beginnt sie mit Schmerz, ein Schrei, der uns ins Leben ruft.
Das trügerische Versprechen der Sicherheit
Der goldene Käfig
Wir alle kennen sie, diese stille Sehnsucht nach Sicherheit. Nach einem Leben, das klar vor uns liegt, wie eine gerade Straße ohne Schlaglöcher, ohne Abzweigungen. Ein Leben, das berechenbar ist. Doch diese Sicherheit, nach der wir uns so verzweifelt sehnen, ist nichts als eine Illusion – ein goldener Käfig, dessen Gitterstäbe wir erst bemerken, wenn der Schmerz in uns zu brennen beginnt.
Der Sprung ins Unbekannte
Warum klammern wir uns an Dinge, die uns nicht gut tun? An Beziehungen, die uns ersticken, oder Jobs, die uns leer machen? Weil die Unsicherheit uns ängstigt. Denn was, wenn das Neue schlimmer ist? Was, wenn der Sprung ins Unbekannte unser letzter ist? Aber das ist die Wahrheit: Wir wachsen nicht im Komfort. Wachstum braucht Raum, und Raum entsteht erst, wenn das Alte zerbricht.
Die Heilung beginnt im Schmerz
Der kanadische Arzt Gabor Maté erinnert uns daran, dass Schmerz ein Lehrer ist. Ein Bote, der mit jeder Wunde, die er aufreißt, eine Wahrheit enthüllt. Emotionale und körperliche Schmerzen sind untrennbar verbunden; unser Herz schreit, und unser Körper hört mit. Doch was machen wir? Wir betäuben uns. Mit Arbeit, mit Ablenkung, mit allem, was den Lärm in uns dämpfen kann – nur, um uns selbst nicht hören zu müssen.
Maté fragt: „Die Frage ist nicht, warum die Sucht, sondern warum der Schmerz?“ Eine unbequeme Frage, die uns zwingt, hinzusehen. Warum halten wir uns für ungenügend? Warum glauben wir, uns erst beweisen zu müssen, um geliebt zu werden? Der Weg zur Heilung – und zur echten Freiheit – beginnt genau hier: bei der Entscheidung, den Schmerz nicht länger zu vermeiden. Sich der Unsicherheit zustellen und zu erkennen, dass sie kein Feind ist, sondern eine Tür. Was hinter dieser Tür liegt, wissen wir nicht. Aber vielleicht ist es genau das, was wir immer gesucht haben.
Ein Gedanke zum Mitnehmen
Was, wenn wir den Schmerz nicht mehr als Feind betrachten, sondern als Begleiter, der uns auf unserem Weg Hinweise gibt? Was, wenn wir uns fragen: Welche Botschaft hat mein Schmerz für mich? Wo hält er mich fest, und wo möchte er mich freilassen?
Für heute lade ich dich ein, dir selbst diese Fragen zu stellen. Was sind deine wichtigsten Bedürfnisse – und wie könntest du sie erfüllen, ohne darauf zu warten, dass der Schmerz dich dazu zwingt?
Podcast-Meditation: Schmerzen auflösen
Gerald Blomeyer, Berlin am 30. November 2024
Foto von Layne Lawson auf Unsplash