Loslassen ist eine seltsame Alchemie, die Angst in Freiheit verwandelt. Paula hatte ihr Leben lang versucht, es anderen recht zu machen. Schon als Kind suchte sie das Lächeln der Anerkennung ihrer Eltern, wollte ihre Lehrerin beeindrucken und sehnte sich danach, von der Gesellschaft um sie herum akzeptiert zu werden. Sie wurde geschickt darin, die Rollen zu spielen, die man von ihr erwartete – die perfekte Tochter, die verlässliche Freundin, die pflichtbewusste Kollegin.
Doch in ihr wuchs eine leise Unzufriedenheit, wie ein Schatten, der sich heimlich in die dunklen Ecken ihres Herzens schlich und eine kalte Spur hinterließ. Diese Unruhe war mehr als nur ein flüchtiges Gefühl. Sie begleitete Paula stetig als ein unaufhörliches Flüstern im Ohr, dass etwas Grundlegendes in ihrem Leben fehlte. Natürlich wäre es toll, mit jemandem zu sprechen, der ihr wirklich zuhören würde und ihr helfen könnte, sich ihrer Schuldgefühle bewusst zu werden und sich zu öffnen. Die Jahre vergingen, und Paula spürte die Last dieser Masken immer schwerer. In ihr flammte die Erkenntnis auf, dass sie sich selbst verloren hatte, gefangen in einer Rolle, die ihre Erwartungen und Sehnsüchte erfüllen sollte aber nicht tat. Doch der Ausweg schien unmöglich – wie sollte sie all das abstreifen, was sie so lange aufrechterhalten hatte? Wie konnte sie loslassen, ohne alles zu verlieren, was sie zu kennen glaubte?
Ihr Herz schlug im Takt eines fremden Liedes, und sie erkannte, dass sie ihr Leben nach den Wünschen anderer gelebt hatte. Sie dachte an die Worte, die sie ein Leben lang begleitet hatten: „Pass dich an. Du musst gefallen.“ Doch es wurde ihr klar, dass diese Worte Illusionen waren – Fesseln, die sie sich selbst angelegt hatte. Die Angst vor dem Urteil der anderen war nur ein Schatten, der durch ihre eigene Zustimmung existierte. Jede Entscheidung, die sie gegen ihre eigene Wahrheit traf, nahm ihr ein Stück Lebendigkeit. Jedes Mal, wenn sie „Ja“ sagte, obwohl ihr Herz „Nein“ schrie, erstickte ein Teil von ihr.
Der Traum
Eines Abends lag Paula entspannt im Garten, versunken in einem Liegestuhl, als sie einschlief. Sie begann zu träumen. Vor ihr erschien eine enge Gasse, gesäumt von nackten Backsteinwänden. Eine sanfte Stimme sagte: „Lehn dich an. Du musst nicht mehr kämpfen. Wir halten dich, stärken deinen Rücken und machen dich stark.“ Sie wurde unruhig, doch zaghaft lehnte sie sich an. Sofort fühlte es sich an, als ob eisige Finger sie umklammerten. Sie war gefangen, wie in einem klebrigen Spinnennetz, dessen Fäden sich unerbittlich um ihre Glieder schlangen.
Die Fäden dieses Netzes schimmerten verlockend, doch bei genauerem Hinsehen entblößten sie ihre grausame Natur. Jeder Faden stand für eine Erwartung, jede Masche für einen Kompromiss. Je mehr Paula sich bemühte, diese Maschen zu durchdringen, desto enger schnürte sich das Netz um ihr Herz. Ihr ganzer Körper war gefangen. Jedes Mal, wenn sie versuchte, sich zu befreien, zog sich das Netz fester zusammen, bis es sie fast vollständig umschloss.
In ihrer Verzweiflung rief sie nach ihrem Sohn Michael: „Michael, ich bin gefangen. Bitte, bitte hilf mir!“ Michael erschien mit einem Kurzschwert in der Hand und begann, das Netz zu durchhauen. Mit jedem Schlag brachte er Licht und Klarheit in die Dunkelheit. Während er die Fäden durchtrennte, erkannte Paula, dass es nicht nur äußere Erwartungen waren, die sie einengten – es waren vor allem ihre eigenen Illusionen, die sie so lange aufrechterhalten hatte. Die Sehnsucht, geliebt und anerkannt zu werden, hielten sie in einem kunstvoll gewebten Netz aus Erwartungen und gesellschaftlichen Normen gefangen – eine Illusion, die sie langsam erstickte.
Das, was sie wirklich brauchte
Durch die Befreiung erkannte sie, dass das, was sie wirklich brauchte, etwas anderes war: Selbstmitgefühl. Selbstmitgefühl bedeutete für Paula, ihre eigenen Reaktionen zu verstehen und anzuerkennen, dass diese tief in ihrer Vergangenheit verwurzelt waren. Sie wünschte sich, dass ihre Freunde und Familie sie darin unterstützten, die belastenden Bedingungen ihrer Kindheit loszulassen. Sie spürte, wie sich eine nie dagewesene Freiheit in ihr ausbreitete. Sie begann, ihre inneren Ketten zu lösen. Die Erwartungen, die sie so lange gefesselt hatten, lösten sich auf, wie durchscheinende Wolken. Zum ersten Mal in ihrem Leben sprach sie ihre eigene Wahrheit aus: „Nein. Das will ich nicht!“
Es war der Beginn einer neuen Reise – einer Reise zu sich selbst und zur Entdeckung ihres eigenen Wertes. Paula lernte, dass wahre Liebe und Akzeptanz in ihr selbst lagen und nicht in der Bestätigung von außen. Sie hatte erkannt, dass Freiheit nicht darin bestand, den Erwartungen anderer zu folgen, sondern ihre eigenen zu gestalten. Die Illusion der Akzeptanz verblasste im Angesicht der Realität der Selbstliebe. Paula dachte: „Es ist okay, Fehler zu machen. Ich darf so sein, wie ich bin. Ich habe Mitgefühl mit mir.“
Von diesem Tag an tanzte Paula durch ihr Leben – nicht mehr im Takt anderer, sondern im Rhythmus ihres eigenen Herzens.
Gerald Blomeyer, Berlin am 4.10.2024
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