Wir identifizieren uns nicht mit den Gedanken, sondern sind uns der Gedanken bewusst. Wenn wir allem liebevoll und bewusst begegnen, bedeutet es, Liebe zu sein. Dieser Augenblick ist Liebe. Ich bin liebendes Bewusstsein.“ – Ram Dass

 

Neulich hörte ich einen Vortrag von Ram Dass (1931–2019), der früher Richard Alpert hieß und ein US-amerikanischer Professor für Psychologie an der Harvard-Universität war. Er erzählte, dass der tibetische Lama Chögyam Trungpa ihm das Gedicht „Hsin Hsin Ming“ von Sengcan, dem dritten Patriarchen und Begründer des Zen (Ch’an), empfohlen habe. Eine Stunde später schenkte ihm eine Frau diesen ältesten Text des Zen aus dem 6. Jahrhundert, der vom Bewusstsein handelt. Der Text beginnt:

‚Der große Weg ist nicht schwierig für diejenigen, die frei von Vorlieben sind. Ohne Anhaftung oder Abneigung ist alles durchsichtig.‘

 

Keine Vorlieben haben

Das Bewusstsein ist immer da, aber wir können es nicht erkennen, weil wir ständig denken, auswählen, haben wollen oder ablehnen. Wir sind voller Vorlieben für Farben, Essen, Menschen, Orte, Komfort und Arten von Erfahrungen. Wir sind voller Meinungen und Vorurteile, die unsere Aufmerksamkeit von dem trennen, was da ist. Meinungen sind so gesehen eine „Krankheit des Verstandes“, die wir aufgeben müssen. „Bist du bereit, danach zu leben?“ fragt Ram Dass. „Kannst du erkennen, welche Weite du brauchst, um nach dieser Weltsicht zu leben? Das ist die heftigste Philosophie, die ich kenne. Ich freue mich über diese Art intensiven Freund, der mich daran erinnert, wie viele Meinungen ich habe: Diese sollte anders sein, andere sollten anders sein, wäre es nicht besser, wenn…“

 

Meinungen und Präferenzen nicht festzuhalten

Zwei Strophen des ‚Hsin Hsin Ming‘ handeln davon, wie wir uns auf das Bewusstsein einlassen: „Mit einem einzigen Schlag sind wir von der Knechtschaft befreit; nichts haftet an uns und wir halten nichts fest. Alles ist leer, klar, selbstleuchtend.“ Anstatt zu denken, ruhen wir einfach im Bewusstsein, in direkter Harmonie mit dieser Realität. Ram Dass: „Wir sind alle zusammen hier, und wir sind alle hier in einer Qualität der Leere. Wenn du in deinem Geist weit genug zurückgehst, hinter das ‚Ich‘ und das ‚Mich‘ und das, was die Sinne dir sagen, kommst du in eine leere Präsenz, und dennoch sind alle Phänomene vorhanden. Doch der Geist greift nicht länger nach den Phänomenen, klammert, vermeidet, zieht und drückt nicht. Es darf alles so sein, wie es ist, einfach ‚Ahhhh, ja, ein weiterer Moment.‘“

 

Im liebenden Bewusstsein ist alles willkommen

Liebendes Bewusstsein urteilt nicht. Es empfängt sowohl Gefühle von Frieden und Klarheit als auch Gefühle wie Ärger oder Verletztheit. Nichts wird weggeschoben, nichts festgehalten. Lassen wir unsere Gedanken und Gefühle in dieser Weite aufsteigen, lösen sie sich nach einer Weile auf. Wir selbst sind dieses Gewahrsein, in dem alles kommt und geht. Im gegenwärtigen Augenblick können wir diesen zeitlosen, offenen Raum fühlen, in dem alle Gegensätze erscheinen und willkommen sind. Wir können Liebe durch Denken nicht erkennen. Wer sie kennt, denkt nicht darüber nach, weil sie eine existentielle Erfahrung und keine Theorie ist. Um Liebe zu kennen, müssen wir sie sein.

 

Nachspüren

Der Tanz hebt dich empor und bringt dich wieder hinab. Die Aufgabe besteht darin, sich nicht nur am Aufstieg festzuhalten, sondern all diesen Kräften Raum zu geben, sie zu erkennen und willkommen zu heißen.

 

Gerald Blomeyer, Berlin am 25. Juli 2024


Foto von SGR auf Unsplash

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