„Wir sind es, die vergehen, wenn wir sagen, dass die Zeit vergeht.“ – Henri Bergson, französischer Philosoph
„Wir leben nie. Wir sind immer in der Erwartung zu leben.“ – Voltaire
„Jeder wartet nur.“ Dr. Seuss in „Oh, The Places You’ll Go“.
Das Warten in Stille heilt
Unser Leben ist von der Zeit bestimmt. Sie teilt unser Leben ein, sie wird immer knapper. Doch ein Großteil unserer Existenz besteht aus Warten, den Lücken oder Pausen zwischen den Handlungen. Sie laden uns ein innezuhalten und das Vorwärtsdrängen auf das Erwartete seinzulassen. Als ich am vergangenen Freitag in Mallorca aufwachte, war ich von Frieden der kleinen Wohnung in Palmas Altstadt erfüllt. Ich setzte mich auf ein Sofa und ließ mich aufs Warten ein. In der nächsten Stunde fielen alle Probleme und alle Vorstellungen handeln zu müssen, von mir ab. Ich erlebte in dieser Auszeit, wie sich Fragen und Probleme in Frieden transformierten. Beim Warten – ohne mich zu sehnen oder etwas zu erhoffen – durfte alles so sein, wie es war. Ohne handeln zu wollen, wurde die Frustration des Wartens in Stille neutralisiert und ich begegnete mir selbst.
Geduld
Wenn ich in Eile bin, hat Warten für mich keinen Wert. Nur mit Geduld kann ich meinen Verstand kontrollieren. Dann kann ich bewusst warten, bis das Wasser kocht, das Brot getoastet ist, bis der Computer hochlädt oder unser Partner zum Treffen kommt. Wer das Warten wahrnimmt, kann den Körper entspannen und sich sicher fühlen. Wer neugierig wartet, stärkt sein Gefühl der Selbstkontrolle und des Vertrauens. Wenn wir nicht angespannt sind und die Zeit mit Dingen füllen wollen, können wir locker lassen. Wir lösen uns von der Illusion der Unmittelbarkeit und öffnen uns, fühlen uns leicht und zufrieden. Voll Vertrauen können wir auf die Erfahrung neugierig sein. Doch unsere Zeit ist auch mit der Zeit der anderen verflochten. Wir können uns überlegen, wer wem die Wartezeiten auferlegt und wer davon profitiert. Warten ist also eine Zeit, die wir in das soziale Gefüge investieren, das uns miteinander verbindet.
Es braucht Zeit, um Details zu erfassen
Gute Entscheidungen entstehen aus dem Verständnis unserer Grenzen. Unsere Fähigkeit abzuwarten, können wir nutzen, um über unser Leben nachzudenken. Wir mögen das Leben als einen Wettlauf gegen die Zeit ansehen, aber es wird nur dann bereichert, wenn wir uns die Zeit nehmen, das zu verstehen, was wir tun und was wir uns wünschen. Jennifer Roberts, Professorin für Kunstgeschichte in Harvard, lehrt ihre Studenten den Wert des Wartens. Sie bezeichnet sie als „Entschleunigung und immersive Aufmerksamkeit“. Bevor die Studenten ein Kunstobjekt beschreiben dürfen, verlangt Roberts, dass sie sich drei Stunden lang mit dem Objekt beschäftigen. Indem die Studenten eintauchen, können sie Details und Zusammenhänge entdecken, die auf dem ersten oder zweiten Blick nicht sichtbar sind. Wenn wir uns vom Wert des Wartens leiten lassen, können wir tiefe Einsichten über uns selbst, andere und die Welt um uns herum, haben. Anstatt ein Ziel erreichen zu wollen, indem wir unsere Kiefer zusammenpressen, entspannen wir uns und lassen unseren Körper weich werden. Wir erlauben uns eine Weile zu warten. Am Montag werden wir „Des Augenblicks gewahr sein“ üben.
Gerald Blomeyer, Berlin 27. Mai 2022
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