Es ist nicht das Leben, das Leiden verursacht, sondern unsere Interpretation, die so viel Leid verursacht. Wenn wir üben, die Geschichte, die wir uns selbst erzählen, zu unterbrechen, können wir angesichts von Ungewissheit und Veränderung eine neue Freiheit und Flexibilität finden.“ – Pema Chödrön

Alle Männer sind ehrlich, aber sie ändern ihre Ehrlichkeit oft.“ – Tristan Bernard

 

Wir sind ein ständiger Prozess, weder fest noch stabil.

Wir erinnern uns an den ersten Kuss, aber nicht an den zweiten. Das Gehirn speichert keine exakten Aufzeichnungen dessen, was uns passiert ist, sondern nur Highlights. Wenn wir bewusst sind, dass unser Gedächtnis uns mit Chimären füttert, erkennen wir die glitschige, formverändernde Natur der scheinbar festen Wahrheiten. Frühe Erinnerungen dienen als Vorlagen für die Geschichten, mit denen wir interpretieren, was uns passiert ist und wohin unsere Lebensreise geht. Sie helfen uns, unser Leben zu verstehen und die Illusion einer kontinuierlichen Identität von der Geburt bis heute vorzuspiegeln.

Als Forscher am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Unzulänglichkeiten des Gedächtnisses untersuchten, dokumentierten sie, wie unzuverlässig Augenzeugenberichte waren. Ein gewisses Maß an Vergesslichkeit fördert schnelleres Lernen, kann dazu beitragen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren und Ideen neu zu verknüpfen.

 

Wir erzählen uns Geschichten darüber, wer wir sind und wie die Welt funktioniert.

Geschichten verbinden uns durch gemeinsame Gefühle und Erfahrungen mit anderen. Sie helfen uns, gesehen zu werden, uns selbst zu verstehen und zu verarbeiten, was mit uns passiert. Aber viele dieser Geschichten sind fehlerhaft. Oft halten wir etwas zurück oder fügen etwas hinzu, um bestimmte Aspekte unseres Lebens hervorzuheben oder zu verschleiern.

Wenn wir uns als das subjektive Zentrum der Welt sehen, entwickeln wir ein Gefühl der Selbstbestimmung. Allerdings trennt uns das „Ich“ auch von der Welt und wir können uns einsam oder entfremdet fühlen. Diese Tendenz wird durch das zwanghafte Teilen in sozialen Medien verstärkt. Zärtliche Geschichten hingegen erzählen von einander, von der Welt, von unserem Platz und unserer Macht darin. Indem wir trainieren, anderen zuzuhören, können wir offen und mitfühlend sein für das, was sie uns mitteilen.

 

Nutze das, was jetzt hier ist

Ohne Geschichten können wir uns nicht mit der Welt auseinandersetzen, weil wir dazu sowohl ein Selbstbild und eine Welt brauchen. Das Problem ist, dass wir unsere Geschichten nicht als Geschichten sondern als wirklich ansehen. Sind wir unsicher, wer wir sind, greifen wir alte Geschichten wieder auf. Wenn wir jedoch belastende Erinnerungen immer wieder durchleben, erleben wir uns als Opfer und machen andere für unser Leid verantwortlich. In Wahrheit ist unser Wesen jedoch fließend und dynamisch. Es gibt unbegrenzt viele Möglichkeiten, wie wir denken, fühlen und die Realität erleben können. Wenn wir uns von der Last einer festen Identität befreien, können wir uns mit der grundlegenden Offenheit unseres Wesens verbinden. Indem wir unseren Fokus öffnen, können wir festgefahrene Vorstellungen loslassen und die dynamische Energie von Gedanken und Gefühlen erfahren. Anstatt uns auf ein Drama zu fixieren, werden wir uns des Raumes bewusst, in dem die Gedanken entstehen und vergehen. So können wir uns dem Raum hingeben und das annehmen, was wir fühlen.
A
m Montag werden wir die Kontemplation Lebensfreude entdecken üben.

 

Nachspüren

Spüre Klänge, Gerüche, Schmerz oder Komfort im gegenwärtigen Augenblick. Merke, dass sie in der unbegrenzten Offenheit des Bewusstseins erscheinen und vergehen. Die weite Stille hilft uns, präsent zu bleiben und dem zu begegnen, wovor wir bisher weggelaufen sind.

 

Gerald Blomeyer, Berlin am 5. Juni 2024

 

PS
Byron Katie, The Work: Begegne deiner Geschichte in sechs Schritten
1. Ist das wahr?
2. Kannst du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist?
3. Wie reagierst du, was passiert, wenn du diesen Gedanken glaubst?
4. Wer wärst du ohne den Gedanken?
5. Kehre deine Aussage um. Formuliere das Gegenteil.
6. Heiße alle Gedanken und Erfahrungen willkommen, um deine Widerstände sichtbar zu machen.

 

Foto von Llanydd Lloyd auf Unsplash

 

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