Do one thing every day that scares you.“ – Eleanor Roosevelt

Wenn du eine Angst klar siehst und sie benennst, erkennst du die Wahrheit: ‚Die Angst ist hier.‘ Dann verliert sie ihre Macht.“ – Schamanische Weisheit

Die Gedanken sind die Schatten unserer Gefühle – immer dunkler, leerer und einfacher.“ – Friedrich Nietzsche

 

Gefühle offen ausdrücken

Mein Vater war ein klassischer Diplomat: Umgänglich, eher konfliktscheu und kompromissbereit als konfrontativ. Eben sehr diplomatisch. Er gehörte zu einer Generation, die ihre Gefühle nicht offen ausgedrückt hat. Das hat mich sicherlich beeinflusst. Wenn wir unsere Gefühle ständig unterdrücken, verschwinden sie nicht einfach, sondern können sogar stärker werden und in unserem Körper und Geist „eitern“. Wer seine Gefühle ignoriert, kann schlechter für sich selbst sorgen und weise handeln. Wenn ich mich nicht gesehen oder ungerecht behandelt fühlte, zog ich mich zurück und schmollte. In „The Course of Love“ (2016) erklärt der zeitgenössische britische Philosoph Alain de Botton die bizarre Sicht des Schmollenden: „Nur wortloses und genaues Gedankenlesen ist ein echtes Zeichen dafür, dass wir unserem Partner vertrauen können; nur wenn wir uns nicht erklären müssen, können wir sicher sein, dass wir wirklich verstanden werden.“ Wie soll mich meine Partnerin verstehen, wenn ich nicht mit ihr spreche oder aus Furcht vor Ablehnung „Ja“ statt „Nein“ sage? Unausgesprochene Kompromisse haben bei mir gesundheitliche Probleme wie Rückenschmerzen, ein geschwollenes Knie oder Ischias verursacht. Wie der kanadische Arzt Gabor Maté erläutert: Wenn wir nicht Nein sagen, sagt es der Körper. Zum Glück habe ich gelernt, meine Gefühle auszudrücken.

 

Alles im Augenblick sehen

Wer Gefühle unterdrückt, um akzeptiert zu werden, verbirgt, was er wirklich spürt. Wir werden angespannt, verbittert und können uns nicht auf die Liebe einlassen. Wenn wir zu uns selber stehen, können wir für unser wahres Selbst geliebt werden. Erst das ermöglicht echte Verbindung und Verständnis. Der schweizer Psychoanalytiker Carl Jung sagte, dass unser Leiden aus den ungesehenen, unterdrückten Teilen unserer Psyche entsteht. Schirmen wir unser Herz ab, um uns vor überwältigendem Leid – wirklich oder eingebildet – zu schützen, erfolgt das durch ein Netz von Gedanken. Um unsere Gefühle authentisch auszudrücken, müssen wir uns diesen „Unterdrückern“, „Schatten“ bzw. „inneren Kritikern“ mit Mitgefühl begegnen. Uns selbst zu lieben bedeutet, bereit zu sein, alles zu sehen, was im Moment da ist. Sich mit offenem Herzen hinzugeben, erfordert, dass wir die Freude und den Schmerz, den wir fühlen, ausdrücken. Wir werden verletzlich, was unsere Wunden und Unsicherheiten, unsere Träume und Hoffnungen sichtbar macht. So vertiefen wir das Vertrauen ins Leben und in Beziehungen.

 

Etwas zu bekämpfen, bedeutet daran festzuhalten

Der Verstand setzt Grenzen, er läßt uns vernünftig handeln. Das Herz aber ist grenzenlos und würde alles geben, um Leid zu lindern. Doch wer Mauern errichtet, schützt nur scheinbar das Herz vor äußerem Leid. Die zentrale Frage ist, wie wir unser Herz offen halten. Die Antwort liegt darin, keinen festen Standpunkt einzunehmen. Wir erkennen unsere Menschlichkeit und das Perfekte gleichzeitig an. Dies führt zum Mitgefühl, bei dem wir das Leiden anderer lindern möchten, ohne daran zu zweifeln, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Die Lösung liegt im offenen Fokus, indem wir Gegensätze gleichzeitig sehen. Die Fülle des Augenblicks erleben wir nur in der Weite und Stille, die sich direkt hinter den Gegensätzen befindet, im Bewusstsein. Da Meditation radikal ehrlich ist, hilft sie uns, die Illusion eines getrennten Selbst aufzulösen.

 

Nachspüren

Wie fühlt es sich, das Leben, das jetzt hier ist, zu umarmen? Kannst du diesen Augenblick ehrlich und liebevoll halten? Benenne fünf Dingen, die du siehst, hörst und riechst, um dich auf den Moment zu konzentrieren.

 

Gerald Blomeyer, Berlin am 30. Mai 2023

 

Foto (c) Tom Pingel 2024

Pin It on Pinterest

Share This