Wir sind in Abschied und Ankunft, wir wohnen auf der Schwelle.“ – Manfred Hinrich

Lehrer öffnen dir das Tor. Doch über die Schwelle treten mußt du selber.“ – Hakuin Zenji


Jede Tür trennt und verbindet, indem sie eine Grenze markiert

Schwellen kennzeichnen räumliche Grenzen, Übergänge von einem Bereich in einen anderen. Sie ermöglichen uns zwischen Bewegung und Stille, Räumen und offenen Flächen zu unterscheiden. Im Augenblick, wo wir eine Schwelle überschreiten, lassen wir Altes hinter uns, um Neues zu betreten. Der Übergang kann uns an Vertrautes erinnern oder gar eine „Melancholie der Rückkehr“ auslösen. Wir werden ständig von Übergängen begleitet. Wie der Tag in die Nacht und die Nacht in den Tag übergeht, werden die Übergänge der Morgen- und Abenddämmerung berührt. So wie der Winter in den Sommer übergeht und der Sommer in den Winter, berühren wir die Schwellen von Herbst und Frühling. Schwellen zeigen, dass alles ein Prozess ist, der uns in einen größeren Raum befreien kann. Die größte Schwelle ist die zum Tod. Sie ist so kostbar, weil alles Leben vergeht, während wir ins Unbekannte tauchen. Der Tod drängt uns, unser Leben anzunehmen, uns selbst und anderen zu vergeben und loszulassen, das kleine Selbst in einem größeren Strom des Seins aufgehen zu lassen.


Schwellen markieren Übergänge

Der Mythenforscher Joseph Campbell stellte fest, dass der angehende Held sich entscheidet zu reisen, weil er sich in seiner Umgebung nicht wohlfühlt. Um den inneren Konflikt aufzulösen, muss er eine Schwelle überschreiten, um unbekanntes Terrain zu betreten. Übergänge sind Gefahrenzonen. Wer darin bestehen will, muss etwas wagen. Der Schritt von vertrauten Landschaften ins Unbekannte, ist eine Grenzerfahrung, die oft unberechenbar und chaotisch ist. Wir treten dabei immer wieder neu in den gegenwärtigen Augenblick unseres eigenen Lebens. Denken wir dabei an Menschen, die den Weg vor uns gegangen sind, öffnen wir das Tor zum Mitgefühl. Auch das Ein- und Ausatmen ist nichts anderes als das Betreten und Verlassen einer Schwelle. Für den Zenmeister Suzuki Roshi erleben wir beim Einatmen, wie die Luft in die innere Welt kommt. Wenn wir ausatmen, geht die Luft hinaus in die äußere Welt. „Wir sagen ‚innere Welt‘ oder ‚äußere Welt‘, aber eigentlich gibt es nur eine ganze Welt. In dieser grenzenlosen Welt ist unsere Kehle wie eine Schwingtür. Die Luft kommt herein und geht hinaus, wie jemand, der durch eine Schwingtür geht.“ Ist unser Geist ruhig, können wir dieser Bewegung folgen. Dann gibt es weder ein Ich noch eine Welt, weder einen Geist noch einen Körper, nur eine schwingende Tür. Sie bewegt sich frei hin und her zwischen dem Gefühl mal unabhängig und mal mit allen Dingen verbunden zu sein.


Wir reifen, indem wir die Schwellen zwischen den Welten überschreiten

Wir sehnen uns nach Erneuerung. Doch es gibt in unserer Kultur kaum Rituale, die Veränderungen deutlich machen. Natürliche oder gesundheitliche Katastrophen gelten bei uns nicht als Initiationsriten. Dennoch setzen sie die bisherige Ordnung außer Kraft und fordern uns auf, uns auf das Nicht-Wissen einzulassen. Wir erleben diese Schwelle als eine Zeit großer Unsicherheit. Es kann sein, dass nichts, auf das wir uns verlassen haben, da ist, um uns zu unterstützen. Das Beste und oft einzige, was zu tun ist, ist loszulassen. Indem wir unsere Geschichte aufgeben, verändern wir unser Selbstverständnis und können zu Zeugen des Wandels werden. Das hilft uns, lebendiger und offener zu sein. Mit dem „Anfängergeist“ darf alles mehrdeutig, offen und unbestimmt sein. Frei von gewohnten Rollen können wir die Gemeinschaft als Ganzes erleben. Gehen wir über das hinaus, was wir bereits zu wissen glauben, treten wir in neue Beziehungen ein, was echte Freiheit mit sich bringen kann. Ungewissheit und Unbeständigkeit werden zu Chancen für das Erwachen.

Am Montag werden wir in einer neuen Yoga-Nidra-Meditation Gegensätze auflösen, um diese Freiheit zu erleben.

Nachspüren

Wann hast du dich entschieden, dein gewohntes Leben zu verlassen? Auf welche Hindernisse bist du gestossen? Wie hast du sie überwunden? Wann hast du die Schwelle zurück in ein normales Leben überquert.

 

Gerald Blomeyer, Berlin am 6. Juli 2023

 

 

Photo by Akira on Unsplash

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