„In jedem Augenblick kann etwas passieren. Bauarbeiter stürzen von Gerüsten. Segler werden über Bord gespült. Krisen entstehen plötzlich. […] Es geschehen innere Ereignisse wie Herzinfarkte, Schlaganfälle und so weiter. Dann formieren wir uns neu, denn wir können unsere Rolle nicht mehr einnehmen. Wir erkennen, dass unsere Rolle nicht festliegt, sondern eine Identität ist, die wir vorübergehend einnehmen wie ein Schauspieler. Wenn wir morgens aufstehen, sind wir präsent, wir öffnen uns und nehmen dann die Rolle an. Unsere Rolle ist formgebend als Ausdruck, nicht formgebend als Identität.“ – James Low

 

Identitäten, die wir uns selbst zuschreiben

 

Die großen spirituellen Lehren der Welt sagen, dass wir nicht der sind, für den wir uns halten. Wir alle verfolgen Ziele, sehnen uns oder hassen etwas. Eine Rolle anzunehmen, gibt uns eine Identität, mit der wir mit anderen Identitäten in Beziehung gehen. Doch ist unser „Ich“ weder fest noch dauerhaft, sondern ein fortlaufender narrativer Prozess. Es beteiligt sich dynamisch an unseren Entscheidungen und ermöglicht, dass wir als Gesellschaft funktionieren. Wir tauschen Geschichten und Erfahrungen aus, lernen von einander und regen uns gegenseitig an. Das „Ich“ beruht auf unseren tief verwurzelten Gewohnheiten und Mustern, die scheinbar angeboren sind. Der Britische Meditationslehrer James Low betont deshalb die Bedeutung von Offenheit. Nur wenn unsere Hände leer sind, können wir auf das reagieren, was da ist. Halten wir hingegen etwas in der Hand oder im Geist fest, sind wir eingeschränkt. Es gibt immer Raum für Neues. Doch können wir das Unbekannte willkommen heißen?

 

Irrglaube: wir sind eine Rolle

 

Unser Leben entsteht immer frisch im Hier und Jetzt. Wir wissen erst, was wir in fünf Minuten denken werden, wenn wir es denken. Unsere spontane Kreativität bleibt oft in unseren starken Denkmustern gefangen, denn wir wollen unser Leben vorhersehbar machen. Das schneidet uns aber von der Frische des Augenblicks ab. Verschmelzen wir mit bzw. glauben wir unseren Gedanken, werden wir eins mit ihnen. Wir ändern unsere Meinung. Mal fühlt sich die Geschichte unseres Lebens gut an, mal sind wir besorgt. Unsere Vergangenheit prägt uns, doch sind wir nicht von ihr gefangen. Buddhisten bezeichnen die Energie, die alle Formen des Lebens hervorbringt, als „leer“. Unsere Welt und unser Selbstverständnis sind ein Spiel von Mustern. Jede Identität, die wir annehmen, ist vorläufig und vergänglich. Denken wir „Ich bin ein Lehrer“, können wir uns leicht damit identifizieren. Die Herausforderung liegt darin, diese Rolle nur ein Etikett ist. Wir sind nur frei, wenn wir uns nicht damit identifizieren, sondern sie als Rolle begreifen: „Ich bin manchmal auch Lehrer.“ Frei zu sein bedeutet, die Bezeichnung locker anzunehmen, so transparent wie einen Traum und gleichzeitig praktisch zu handeln.

 

Neugierde befreit

 

In der Meditation lassen wir los, indem wir neugierig sind, was in unserem Geist erscheint. Wir merken, unser Geist ist offen und leer ist. In diesen offenen Raum erscheinen unsere Erfahrungen und Stimmungen, die mal unbeschwert oder schwer sind. Gefühle, Gedanken, Klänge, Erinnerungen, Hoffnungen und Ängste usw. erscheinen als Bewegungen in der erkennenden Stille. Sind wir ein ständiger Strom flüchtiger Erfahrungen oder sind wir eher der Geist, der sie ununterbrochen erkennt? Der griechische Philosoph Heraklit verglich das Leben mit einem Fluss: „Wir können nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Unser Körper, der gestern in den Fluss stieg, ist ein anderer, als der, den wir heute haben. Auch das Wasser ist anders. Immer wieder macht ein neuer Körper eine neue Erfahrung im neuen Wasser. Nur unser Name und der des Flusses sind gleich geblieben. Am Montag werden wir die Meditation „Neugierig sein“ üben. (deutschepostcasts.de)

 

Gerald Blomeyer, Berlin am 29.  November 2022

 

Image by StockSnap from Pixabay

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