Wenn du willst, dass andere glücklich sind, übe dich in Mitgefühl. Wenn du glücklich sein willst, praktiziere Mitgefühl.“ – Dalai Lama

Wenn wir die selbstlose Natur der Phänomene erkennen, dämmert die Energie, Gutes für andere zu bewirken, spontan und mühelos.“ – Dilgo Khyentse Rinpoche (1910 – 1991)

Tun und Sein im Gleichgewicht

Die westliche Philosophie bejaht die Vorstellung eines Egos, während die östliche davon ausgeht, dass dieses Selbstgefühl eine Illusion ist. In seinem Buch „No Self, No Problem“ weist der amerikanische Professor Chris Niebauer auf den Zusammenhang von Neurowissenschaften und Buddhismus hin: Im Gehirn gibt es keine feste „Selbst“-Komponente. Die Neurowissenschaftlerin Dr. Jill Bolte Taylor erlebte 1996 einen Schlaganfall, der ihre linke Gehirnhälfte lahmlegte. Sie konnte weder Sprache verarbeiten noch auf das Gefühl eines stabilen, kontinuierlichen Selbst zugreifen. Ihre innere Stimme war verstummt, aber die Angst, die sie einst empfunden hatte, verschwunden. An deren Stelle trat ein Gefühl des Friedens und der Verbundenheit mit anderen, eine Art Einssein mit dem Universum. Dies ermöglichte es ihr, die Stille und Konzentration zu erfahren, die andere durch Meditation anstreben. Sie suchte und fand dann eine Möglichkeit, ihre linke Gehirnhälfte, die für die Verarbeitung und Interpretation von Sprache zuständig ist, wieder zu nutzen.

 

Das Selbst ist eine Beziehung

Unser „Selbst“ ist ein Konstrukt, von dem wir uns durch die Energie unserer rechten Gehirnhälfte in Meditation, Mitgefühl und Dankbarkeit befreien können. Wenn wir sagen „ich denke“ oder „ich fühle“, glauben wir, dass es ein „Ich“ geben muss. Wir bauen unser Gedächtnis auf, um Geschichten über uns und andere zu erzählen. Das bekräftigt unser Selbstgefühl und gibt dem, was wir erlebt haben, einen Sinn. Schauen wir genauer hin, sehen wir, dass „das Selbst“ nicht fest ist, sondern sich ändert, ein Prozess ist. Die buddhistische Vipassanā-Meditation sieht die Phänomene so wie die Kohlensäure im Sprudelwasser perlt. Ständig tauchen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten, Erinnerungen im Bewusstsein auf und vergehen. Im Gegensatz zur Achtsamkeit, die unsere Aufmerksamkeit verengt und fokussiert, schult Vipassanā offen, ruhig und aufmerksam das gegenwärtige Ereignis zu betrachten. Alles darf so sein, wie es ist. Wir erleben, wie der Geist aus dem sich ständig verändernden Fluss der Erfahrung eine scheinbar stabile Realität konstruiert. Wir beginnen zu verstehen, dass unser Verlangen nach und Festhalten an den vorübergehenden Phänomenen zu Leiden führt. Doch wir brauchen diese Vorstellung vom Selbst, um unsere Vergangenheit zu verstehen und um zu handeln. Wir brauchen ein Gleichgewicht von Selbst oder Tun und Nicht-Selbst oder Sein.

 

Mitfühlen statt leiden

Je mehr sich alles um uns dreht, umso weniger kümmern wir uns um andere. Starke Emotionen verstärken unser Gefühl eines festen „Ich“: „Ich hasse dich. Ich ärgere mich. Ich fürchte mich.“ Die Betonung des „Ichs“ trennt uns von den anderen. Wir leiden und fühlen uns allein. Mit Mitgefühl richten wir hingegen unsere Aufmerksamkeit auf die Linderung des Leidens von uns und anderen. Doch wir wollen Leiden vermeiden, es weder sehen noch uns nahekommen lassen. Wer das Leiden nicht annimmt, kann nicht mitfühlend sein. Erst wenn wir uns nicht davor schützen wollen, können wir uns öffnen. Mitgefühl zu haben, zeigt uns, dass wir mit unserer Leidenserfahrung nicht allein sind. Das ermöglicht uns, dem eigenen Leiden und dem der anderen zu begegnen. Mitgefühl weckt in uns die Liebe, die allem innewohnt. Je weniger unser Ego im Mittelpunkt unserer Weltsicht ist, um so bereiter sind, wir, anderen zu helfen. Das hilft unsere falsche Vorstellung von dem, wer wir sind und was die Welt ist, zu ändern.

 

Das Glück der Liebe

Weisheit und Mitgefühl sind eng miteinander verbunden. Die Weisheit sagt, dass alles miteinander verbunden ist, dass alles fließt. Wahres Glück finden wir, indem wir nicht an den schnellen Fluss der Körper-Geist-Phänomene anhaften. Weisheitsgeist erkennt das Selbst als einen Gedanken, der sich im Laufe unseres Lebens ständig wandelt. Unsere Sinneserfahrungen entstehen und vergehen kontinuierlich, unabhängig von einem Ego. Wir können beobachten, wie alles, was erscheint, zu einer Erinnerung wird. Die dramatischen Geschichten, die wir uns erzählen, begreifen wir dann als Schöpfungen unseres Geistes. Das Gefühl eines festen Selbst entsteht, wenn wir uns an Muster klammern oder uns mit ihnen identifizieren. Doch alle Beziehung sind nur für kurze Zeit „unsere“. Am Ende sterben die Menschen oder Aufgaben verändern sich. Je fester wir an unserer Identität festhalten, desto fester werden unsere Probleme. Je weniger selbstbezogen wir sind, umso engagierter und zugewandter sind wir. Wir können uns selbst und andere besser verstehen und lieben.

Der Online-Workshop “Achtsamkeit und Liebe” findet am 19. und 20. Nov. jeweils 9:30 bis 11:30 Uhr statt. Der Link ist derselbe wie bei der Montagsmeditation.

 

Gerald Blomeyer, Berlin am 9. November 2022

 

Photo by Helena Lopes on Unsplash

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