Was wir von der Meditation lernen können

Energiekrise und Inflation erzeugen Furcht vor Wohlstandsverlusten. Doch wie kann man innerlich frei bleiben und mit Ängsten und dem Verlangen, dass alles bleibt, wie es ist, gut umgehen? Meditationlehrer Gerald Blomeyer gibt Anregungen aus der Achtsamkeitspraxis: Gefühle, auch unangenehme, wahrnehmen, und sie abklingen lassen – wie Wellen.

 

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Verlangen richten und diese Haltung negativ bewerten, verlängern wir ungewollt ihre Dauer und verstärken die Intensität, mit der es erlebt wird.“ Jennifer Talley

Seit Generationen setzen die reichen Industrienationen auf Wirtschaftswachstum, um ihren Wohlstand zu sichern und zu vermehren. Gleichzeitig rücken die negativen Folgen für die Erde immer mehr in den Fokus.

Heute überlagern sich Krieg, Klima- und Energiekrise. Mittlerweile wissen alle, dass wir neu denken und anders handeln müssen. Die Menschen im Westen fürchten sich vor Wohlstandsverlusten, aber eine Anpassung des Lebensstils ist unausweichlich.

Wer Achtsamkeit oder andere Formen der Meditation übt, kann hier Anregungen finden, um mit Ängsten und Projektionen, aber auch mit Verlusten, Erwartungen und Sehnsüchten anders umzugehen.

Was sagt uns die Achtsamkeit? Das Leben entfaltet sich von Augenblick zu Augenblick. Wer achtsam innehält, kann die Gedanken und Gefühle anschauen, die jetzt da sind, anstatt sich über die Zukunft zu sorgen oder Vergangenes zu bedauern. Alle Erfahrungen sind flüchtig.

Ein Verlangen, zum Beispiel nach einer komfortablen Lebenssituation, entsteht impulsiv und drängt uns, gewohnheitsmäßig zu handeln. Es wird durch ein Ereignis, einen Gedanken, ein Gefühl, eine Erinnerung oder ein Bild ausgelöst.

Hilfe bei der Entwöhnung

Wer kennt das nicht? Ich spüre einen emotionalen Schmerz und glaube, dass Schokolade ihn lindert und mich glücklich macht. Doch das Glück ist nur vorübergehend. Je mehr ich mich nach etwas sehne, desto stärker wird mein Wunsch, es zu haben.

Der Drang, mich bei Facebook einzuloggen oder jemanden zu kontaktieren, sobald ich mich einsam oder gelangweilt fühlte, lenkt vom unangenehmen Gefühl nur vorübergehend ab. Der Psychologe Dr. Alan Marlatt, der sich viel mit Sucht beschäftigt und das Addictive Behaviors Research Center an der University of Washington leitet, entwickelte das Programm Surfing the Urge (vielleicht zu übersetzen mit „Auf dem Verlangen surfen“), um bei der Entwöhnung zu helfen.

Marlatt vergleicht das Verlangen mit einer Welle im Ozean. Auch die stärkste Welle vergeht relativ schnell. In ähnlicher Weise kann ein Verlangen intensiv sein, es dauert nach aber meist nur etwa 15 Minuten und ebbt von allein ab, wenn es nicht mit Gedanken weiter genährt wird.

Das Surfen auf dem Verlangen hilft, die Gefühle zu erkennen, ohne sich von ihnen beherrschen zu lassen. Studien zeigen, dass diese Technik doppelt so effektiv ist wie der Versuch, dem Verlangen durch Willenskraft zu widerstehen. Vermeidung oder Unterdrückung ist also keine gute Idee, denn dadurch verstärkt sich das Verlangen noch.

In jedem Augenblick kann man neu entscheiden

Der Geist und wie er verfasst ist, entscheidet darüber, wie ein Mensch die Wirklichkeit wahrnimmt. Starke Gefühle von Ablehnung oder Verlangen drängen ihn in eine jeweilige Richtung. Doch in jedem Augenblick kann man entscheiden innezuhalten, sich zurückzuhalten und etwas nicht zu tun.

Man kann, wenn man ungeschickt gehandelt hat, erst einmal neutral reagieren. Man kann sich darin üben, alles so substanzlos wie in einem Traum anzusehen oder wie bei einer Welle, die hochsteigt und bricht. Das schafft den Raum, andere Qualitäten wie Achtsamkeit, Weisheit, Mitgefühl und Liebe zu manifestieren.

Wer direkt erfährt und sieht, wie alles entsteht und vergeht, braucht dies weder als gut noch als schlecht zu bewerten. Das heißt nicht, dass man nicht zwischen ethisch heilsamen und unheilsamen Gedanken unterscheidet.

Entspannt Nein sagen

Wir können ein Verlangen wahrnehmen, ohne es ausleben zu müssen. Wir können liebvoll nein sagen, das heißt, unsere Wahrnehmungen, Handlungen und Gedanken zurückzuhalten.

Wer immer wieder einem Drang nachgibt, kommt nicht zur Ruhe. Wer den Impulsen folgt, versteht ihre Macht nicht und unterwirft sich. Erst wenn man einen Fluss staut, sieht man die Kraft der Strömung. Prioritäten zu setzen ist deshalb wichtig. Dies ermöglicht es, entspannt nein zu sagen.

Doch meistens wollen wir alles gleichzeitig haben, die Schokolade und die Freiheit. Meditation bedeutet, etwas loszulassen bzw. sich auf etwas einzulassen, um das, was da ist, wirklich und mit Freude zu erleben.

Willkommen heißen hilft Leiden zu überwinden

Kann der Mensch wirklich ohne die Dinge, nach denen er sich sehnt, gut leben? Und wie kann man innerlich frei leben, ohne dem Verlangen und all den Impulsen unterworfen zu sein?

Wer weise und großzügig ist, kann leichten Herzens auf Dinge verzichten. Er erkennt die Vorteile, nein zu dem Verlangen zu sagen, Dinge wegzugeben und loszulassen. Er kann anderen erlauben, das zu genießen, was er verschenkt.

Wer meditiert, lernt die vagabundierenden Ideen oder Sehnsüchte einfach anzunehmen als das, was sie sind: flüchtige Erscheinungen. Dann kann sich der Geist konzentrieren und befriedet werden. Denn hinter den Bewegungen liegt eine tiefe Ruhe.

Folgt man hingegen den Ablenkungen, greift der Geist danach und man verfestigt mit den Gedanken einen Zustand, der eigentlich schon wieder vorbei ist.

In einem Zustand der Stille wird der Geist freier. Man versteht, woher die Impulse kommen, die ihn aus dem Gleichgewicht und der Stille reißen.

Dann kann man den Geist dorthin bringen, wohin man ihn haben möchte. Dieser Gleichmut hilft uns zu sehen, dass wir genug haben und in jedem Moment zufrieden sein können.

Wie der amerikanische Meditationslehrer Joseph Goldstein ausdrück: „Durch die Kraft der Zurückhaltung beginnen wir, unser Wollen, Verlangen und unseren Ärger loszulassen. Das schafft den Raum für eine andere Art von Beziehung, von einer mit Mitgefühl und Liebe.“

Gerald Blomeyer hat auch eine Meditation zum Thema verfasst. Zur Meditationsanleitung “Verlangen in der Meditation anschauen”

Foto: Heidi Scherm

Eine Meditationsanleitung

Wie kann man gut umgehen mit der Furcht vor Wohlstandsverlusten und dem Verlangen, dass alles so bleiben soll, wie es ist? Meditationslehrer Gerald Blomeyer gibt Anregungen, um mit Verlangen, Sehnsucht und Erwartungen achtsam umzugehen.

Lesen Sie auch den Beitrag „Auf dem Verlangen surfen“ von Gerald Blomeyer.

Wann immer man sich zur Meditation hinsetzt, dauert es nicht lange, bis irgendein Verlangen aufkommt, sei es nach Ablenkung, Essen, Trinken. Wenn man geschickt damit umgeht, kann man innerlich freier werden.

Eine Meditationsanleitung, um Verlangen willkommen zu heißen, ohne sich zu verurteilen oder zu schämen. Es geht darum, nicht sofort auf das Verlangen, sondern innezuhalten. Dann entscheiden wir uns, ob wir handeln wollen oder nicht.

Kurze Anleitung

Nimm eine bequeme Position ein.

Wie atmet der Körper jetzt?

Folge dem Atem.

Wie fühlt sich die Luft in der Nase und der Lunge an?

Spüre, wie der Bauch sich beim Ein- und Ausatmen hebt und senkt.

Wie fühlt sich der Körper an?

Wie fließt der Atem?

Wir beobachten die Gedanken und Empfindungen neugierig.

Wir beobachten sie, ohne zu bewerten.

Welche Gedanken erscheinen?

Wenn die Gedanken abschweifen, ist das ganz normal.

Richte die Aufmerksamkeit wieder auf den Atem.

Wer eine Zeit meditiert, wird ein Verlangen nach etwas verspüren.

Vielleicht Durst, es juckt etwas oder es erscheint ein anderer Wunsch.

Beginnt ein Teil des Körpers zu jucken, vermeiden wir es, sofort zu kratzen.

Wir beobachten den Juckreiz.

Wie fühlt sich die körperlichen Empfindungen, die es auslöst, an: Heiß oder kalt, kitzelig oder prickelnd? Hat die juckende Stelle eine Form oder Grenzen?

Der Juckreiz kann sich verstärken, wenn wir ihm viel Aufmerksamkeit schenken.

Wir heißen das, was wir fühlen, willkommen und sind neugierig.

Wie eine Welle im Ozean erreicht ein Verlangen einen Höhepunkt und verliert dann seine Kraft.

Die Stärke eines Drangs bleibt nicht lange gleich.

Nach einiger Zeit wird er schwächer.

Wir erlauben uns, ein weiteres Verlangen zu spüren.

Es sind Gefühle, die kommen und gehen.

Wie steigt ein Verlangen auf?

Wie fühlt sich der Höhepunkt des Verlangens an?

Wenn der Drang zu handeln an Intensität zunimmt, beobachten wir weiterhin den Atem.

Wie fühlt sich das Verlangen im Körper an?

Ändert sich die Intensität des Verlangens mit der Zeit?

Kann man die Empfindungen benennen?

Ist das Verlangen in einen bestimmten Bereich des Körpers zu spüren?

Wie fühlt es sich an?

Wie stark ist die jeweilige Empfindung?

Nehmen die Gefühle und der Drang zu handeln mit der Zeit ab?

Sei neugierig.

Gibt es ein Auf und Ab, wenn das Verlangen den Höhepunkt überschreitet?

Wie fühlt sich der Körper dabei an?

Erlaube dir – ohne Vorwürfe – Verlangen oder Heißhunger zu spüren.

Welche Gewohnheiten und Süchte stehen dahinter?

Akzeptiere dein Verlangen und beobachte, ohne es zu bewerten.

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