„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ – Viktor Frankl
Festhalten oder loslassen
Wenn wir enttäuscht sind, ärgern wir uns. Geben wir uns diesem starken Gefühl hin, verengt sich unsere Sicht und achten nicht länger auf das, was in Körper oder Geist geschieht. Wir halten an einer Erfahrung fest, wie an einem Haken, auf den ein Fisch beißt. Das Leid, das daraus entsteht, nehmen wir in Kauf. Es ist jenes klebrige Gefühl, das wir spüren, wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir wollen. Wir fühlen uns im Recht, schimpfen, ärgern uns über den anderen und bemitleiden uns selbst. Anstatt die Ruhe zu bewahren, lassen wir es zu einem Streit anwachsen, obwohl dadurch nichts besser wird. Jedes Verlangen, jede Gewohnheit oder Abhängigkeit, dem oder der wir nachgeben, wird stärker. Wir beißen in den „Köder“ und bleiben am Haken hängen, obwohl wir uns bewusst sind, dass es uns oder anderen schadet.
Erkennen, wie Leiden entsteht
Wenn wir aufkeimendes Verlangen frühzeitig erkennen, können wir verhindern, dass wir impulsiv handeln und anschließend leiden. Wer im Augenblick der Erregung achtsam atmet, kann die Situation klarer anschauen. Dann können wir die Gefühle im Körper und die Gedanken im Geist erkennen und willkommen heißen. Lassen wir sie fließen, verliert die Erregung ihre Macht. Wir erkennen, was vor sich geht und warum unsere Ängste und Spannungen übertrieben sind. Das ist nicht einfach, weil wir glücklich sein und Schmerzen vermeiden wollen. Schließlich kann ein Fleck auf dem neuen Pullover uns verzweifeln lassen. Wenn wir uns oft aufregen, fühlen wir uns nicht vollständig und trauen der Welt nicht. Geben wir unseren Impulsen nach, wachsen sie. Im Sog lassen wir die Vernunft zurück, um ohne nachzudenken, spontan zu handeln. Jede Situation kann dazu verleiten, auf den Reiz zu reagieren und uns an den Punkt zu bringen, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wir können heftig auf die sarkastische Bemerkung eines Kollegen, den Vorwurf unseres Partners, auf einen unbedeutenden Blick reagieren. Da übernimmt das Ego die Kontrolle, das Bewusstsein verengt sich. Wir verlieren die Perspektive und spüren, wie Angst oder Ärger wächst.
Erkenne die Pause zwischen Reiz und Reaktion
Immer wenn wir ein leichtes Unbehagen, Unruhe oder Langeweile verspüren, wollen wir sie loswerden, anstatt sie zu beobachten und dann loszulassen. Wir greifen stattdessen nach Schmerzmitteln wie Essen, Arbeit, zwanghaftem Einkaufen, Drogen, Sex, Alkohol oder beschweren uns oder machen anderen Vorwürfe, weil wir denken, dass es unser Unbehagen beseitigen wird. Atemübungen können den Geist beruhigen und klären. Wer ruhig ist, handelt weniger reaktiv. Gefühle verlieren ebenfalls ihre Stärke, wenn wir lernen, sie im Körper zu spüren. Wenn wir sie aber für wahr halten und reagieren, haben wir den „Köder“ geschluckt. Unsere Gefühle und Gedanken geraten in eine toxische Schleife. Um diesen Prozess zu unterbrechen, lernen wir innezuhalten, um den einen Augenblick zu erkennen, bevor die Wut explodiert. Um den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu erkennen und damit zu unterbrechen, können wir folgende Fragen stellen, um den Anlass der Unsicherheit zu finden: Worüber ärgern wir uns? Wann reagieren wir spontan auf etwas ohne nachzudenken? Wann haben wir das Gefühl, „in den sauren Apfel zu beißen“?
Bewerten stärkt unser Ego
Wir bewerten, um zu unterscheiden, was sicher und was gefährlich ist. Binden wir uns an Positives, fühlen wir uns sicher. Beim achtsamen Atmen entspannen wir uns und öffnen uns für alles, was auftaucht, ohne es zu bewerten. Dadurch lernen wir, die Kettenreaktion alter Gewohnheiten zu stoppen, die uns beherrschen und die wir fälschlicherweise für bequem halten. Unser Geist wird ruhig und offen, die Gedanken dürfen einfach kommen und gehen. Manchmal sind wir in der Meditation von angenehmen Erfahrungen begeistert und wollen sie wieder erleben. Wenn wir dieses Glücksgefühl als eine „gute“ Meditation bezeichnen, kann das süchtig machen. Indem wir etwas bewerten „das will ich“ oder „das will ich nicht“, verfangen wir uns. Erst wenn wir uns und alles andere so annehmen, wie wir sind und wie es ist, gibt es nichts zu beurteilen. Indem wir den Punkt erkennen, wo wir „zubeißen“ wollen, geben wir dem Geschehen eine größere Perspektive und vertrauen unserer eigenen Weisheit. Das befreit uns von Enge oder Unwohlsein und wir erleben innere Ruhe, weit, warm und spontan. Am Montag werden wir die Meditation Klarheit durch Loslassen üben. (Spotify)
Gerald Blomeyer, Berlin, 19.10.2022
Dieser Text wurde angeregt von Pema Chödrön „How We Get Hooked and How We Get Unhooked“
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