„Wenn wir traurig sind und das Leben nicht mehr gut ertragen können, dann kann ein Baum zu uns sprechen: Sei still! Sei still! Sieh mich an! Leben ist nicht leicht, Leben ist nicht schwer. … Heimat ist nicht da oder dort. Heimat ist in dir drinnen, oder nirgends.“ – Herman Hesse, Bäume (eine schöne Neuauflage)

„Alles geht vorüber. Wie unterschiedlich ist doch die Bedeutung dieses Satzes! In einer glücklichen Stunde wirkt er ernüchternd, angesichts von Kummer und Schmerz hingegen tröstlich.“ — Abraham Lincoln



Nichts ist beständig
Wachstum geschieht kontinuierlich. Der Körper beginnt mit der Befruchtung eines Embryos und endet mit dem Tod. Alte Körperzellen sterben, um durch neue ersetzt zu werden. Unsere Haut blättert ab, unsere Nägel wachsen und unsere Haare fallen aus. Der Körper, den wir vor fünf Jahren hatten, existiert nicht mehr. Unser Dasein hängt also nicht von der Existenz eines bestimmten Körpers ab. Mit diesem Wachstum entwickeln und ändern wir unsere Vorstellung von wer wir sind. Das prägt unser persönliches und berufliches Leben. Aus neurowissenschaftlicher Sicht sind das Gehirn und der Körper ständig im Fluss. Eine Studie in der Zeitschrift Trends in Cognitive Sciences sieht einen Zusammenhang zwischen dem Selbst, das sich ständig verändert, und den physischen Bereichen des Gehirns. Dabei ist „die Selbstverarbeitung im Gehirn nicht in einer bestimmten Region oder einem bestimmten Netzwerk angesiedelt, sondern sie erstreckt sich auf eine breite Palette fluktuierender neuronaler Prozesse, die nicht selbst-spezifisch zu sein scheinen“, schreiben die Autoren.



Das Selbst strukturiert den Alltag
Aus buddhistischer Sicht ist das Selbst nicht das ist, wofür wir es halten. Es ist eine sich ständig verändernde Konstruktion, ohne festen Wesenskern. Wir leiden immer, wenn wir an ein getrenntes und unveränderliches Selbst glauben, anstatt es als Prozess zu sehen. Es gibt nichts an dem wir uns festhalten können. „Buddha lehrte, dass die wahre Natur des Selbst unbeständig, von Bedingungen abhängig und in vielen Teilen vorhanden ist“, sagt der tibetische Abt und international beliebte Meditationslehrer Mingyur Rinpoche. An der Entwicklung des Selbst sind Materie, Sinne, Gefühle, Konzepte, Gewohnheiten und Wissen beteiligt. Wer sich den Vorgang des Atmens bewusst macht, kann die Unbeständigkeit von allen Dingen erkennen. Körper, Gefühle, Geist und Phänomene sind sowohl unbeständig als auch voneinander abhängig. Evan Thompson, Professor für Philosophie des Geistes an der University of British Columbia, meint: „Meiner Ansicht nach arbeiten Gehirn und Körper im Kontext unserer physischen Umgebung zusammen, um ein Gefühl des Selbst zu schaffen. Und es ist ein Irrtum zu sagen, nur weil es eine Konstruktion ist, ist es eine Illusion.“


Form ist Leerheit, Leerheit ist Form
Mingyur Rinpoche empfiehlt, das Gefühl eines Selbst oder eine Vorstellung von „mir“, das eindeutig existiert, zu untersuchen. Da alles ein Prozess ist, besitzt kein Phänomen eine feste, unveränderliche, unabhängige, aus sich selbst heraus bestehende Existenz. Es ist immer abhängig und verändert sich von Augenblick zu Augenblick, wenn sich die Ursachen und Bedingungen verändern. Wir sehen diese Situation im Herz-Sutra erklärt: „Form ist Leerheit; Leerheit ist auch Form. Leere ist nichts anderes als Form; Form ist nichts anderes als Leere.“ Da jede Form vorübergeht, ist sie letztendlich „leer“. Form und Leerheit sind zwei Seiten einer Wirklichkeit, die konventionelle und die endgültige Wahrheit. Wir sind uns bewusst, dass alles vergeht, außer dass wir immer erkennen.



Freiheit in uns selbst finden
Gewöhnlich ist unser Geist klein, eng und im dualistischem Denken gefangen. Wenn negative Emotionen wie Hass, Gier, Stolz und Eifersucht uns überwältigen, können wir alle Hoffnung verlieren. Geben wir uns unserem Unglück völlig hin und lehnen alles ab, können wir in Nihilismus verfallen. „Das ist nicht präzise gedacht“, meint Mingyur Rinpoche. Wenn wir uns zu sehr mit Phänomenen beschäftigen, können wir uns ungewollt in ihnen verfangen. Unser Geist verstrickt sich in Erwartungen, Hoffnung und Anhaftung. Wir werden zu starr. Hingegen, wenn wir anstatt zu denken, uns tief aufs Fühlen einlassen, schwindet das Gefühl des Selbst. Indem wir unseren Geist und unser Herz für eine furchtlose Ansicht öffnen, können wir würdig und frei leben. Das fordert uns immer wieder neu. Am Montag werden wir Tun und Sein im Gleichgewicht üben.

Gerald Blomeyer, Berlin, 14. Juni 2022

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