In dieser Woche habe ich den Artikel „Breaking Open“ von Pema Khandro Rinpoche zusammengefasst.
„Der kostbare Topf, der meine Reichtümer enthält, wird in dem Moment zu meinem Lehrer, in dem er zerbricht.“ – Milarepa, tibetischer Yogi
Die Illusion, unser Leben kontrollieren zu können, macht uns verletzlich. Wir glauben an die innewohnende Kontinuität unseres Lebens. Das gibt uns ein falsches Gefühl der Sicherheit. Spätestens wenn ein geliebter Mensch stirbt, spüren wir das. Wir sind gezwungen, uns zu ändern. Manchmal haben wir das Gefühl, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Unser gewohntes Gefühl der Sicherheit verschwindet. Wir sind geschockt und wissen dann plötzlich nicht, wer wir sind. Unsere alte Realität ist verschwunden, doch wir haben noch keine Vorstellung, wie eine neue aussehen könnte. Unsere Vorstellung von einem festen Selbst, das sich an ein reales Leben klammert, löst sich auf. Die Realität, die wir zu kennen glaubten, ist geplatzt, und das Spiel, ein ideales Selbst zu konstruieren, ist plötzlich unwichtig. Buddhisten bezeichnen die direkte Erfahrung der Zerrüttung als „Leerheit“, „offener Raum“ oder „grenzenlos“. Dies ist der Kern unseres Seins, ein Potential, das präsent, klar erkennend und mitfühlend ist.
Wenn alles auseinander fällt, können wir nichts festhalten. Wir können nur so sein, wie wir sind. In Zeiten der Krise haben wir keine Kraft, alles zusammenzuhalten. Ohne uns zu bemühen oder zu streben, darf das Leben schlicht und einfach so sein, wie es ist. Es bleibt nur ein- und auszuatmen, aufzuwachen und einzuschlafen. In Zeiten großer Verluste sind wird gefordert alles loszulassen. Damit wird Neues möglich. Anstelle der Krise, in der alles, was uns wichtig war, genommen wurde, kann nun etwas anderes sichtbar werden. Wir achten auf die Gegenwart, auf das Erleben selbst. Die Krise fordert uns, die Gegenwart als unseren Kern zu erkennen. Tatsächlich erfahren wir sie ständig in den Lücken zwischen unseren vielen Identitäten und Gedanken. Aber wir wissen nicht, wie wir uns auf diese Lücken einlassen können. Stattdessen machen wir uns eng und bemühen uns krampfhaft, besser, sicherer oder beständiger zu sein. In solchen Augenblicken sind wir sowohl verwirrt als auch weise. Dann können wir erkennen, dass Verwirrtsein der Grundstoff der Weisheit ist. Unsere Aufgabe ist es, in jeder dieser Erfahrungen präsent zu bleiben. Wer hingegen nach Sicherheit sucht, kann die Weisheit nicht finden. In der Krise sind wir plötzlich nur noch präsent. Alles andere tritt zurück, außer dem, was direkt vor uns ist. Dieses zu erkennen, erlaubt uns, das Leben als vergänglich anzunehmen. Anstelle von Konzepten erleben wir Präsenz.
Erst kommt die Krise. Die bestehende Ordnung zerbricht. Wir erkennen, dass hinter der Illusion, wir hätten ein festes Selbst, ein dynamisches, reaktionsfähiges Potential liegt. Jetzt können wir lernen, uns in diese Friedlichkeit zu entspannen. Wir müssen nicht länger wissen, was als nächstes kommt. Wir sind nicht länger Sklaven unserer Ängste. Wir akzeptieren die Vorstellung, alles verlieren zu können. Dann müssen wir nichts mehr tun, um das zu sein, was wir schon sind. Wir sehen wie unwirklich die Dinge sind und brauchen uns nicht an ihnen festzuklammern. Die Unbeständigkeit bedeutet nicht ständig zu verlieren, sondern bringt uns auch die neue Freiheit zu entdecken, wie kreativ der sich ständig neu entfaltende Augenblick ist. Kleinliche Sorgen fallen von uns ab. Indem wir uns daran erinnern, dass Festhalten zwecklos ist, öffnen wir unseren Geist und unser Herz. Unsere Illusionen lösen sich auf und wir können uns einlassen. Wer liebt, kann sich ohne Ängste einlassen, weil unsere Glaubenssätze verschwunden sind. Lieben bedeutet, sich für das zu öffnen, was jetzt hier ist, für die Erfahrung selbst. Heute sind wir mit vielen neuen Lebenskrisen konfrontiert, Covid, Krieg in der Ukraine, rasant steigende Preise, der Erderwärmung usw. Am Montag werden wir die Meditation Die Angst vor dem Unbekannten üben.
Gerald Blomeyer, Berlin Ende Mai 2022