„Erklimme die Berge und hole dir ihre frohe Botschaft. Der Frieden der Natur wird in dich einfließen, so wie die Sonne in die Bäume fließt. Die Winde werden ihre Frische in dich hineinblasen und die Stürme ihre Energie, während die Sorgen von dir abfallen werden wie fallende Blätter.“ – John Muir, Naturforscher
In allen spirituellen Traditionen wurden und werden Meditationszentren und Klöster häufig in den Bergen oder tief im Wald gegründet, abseits vom Trubel des Alltags. Dort ist es nicht nur ruhiger, sondern im Freien werden auch unsere Sinne aktiviert. Wir können wacher und aufmerksamer meditieren. Gleichzeitig scheinen die üblichen Ablenkungen weit weg und weniger wichtig zu sein. Vielen Meditierenden fällt es leichter, ihre Sorgen und ihre elektronischen Geräte loszulassen, wenn sie die Schönheit und die Stille der lebendigen Welt erleben. Das ist nicht neu. Seit Jahrhunderten wandern wir in Deutschland, um uns zu entspannen.
Wanderungen in Brandenburg (1862-1881): Schon Theodor Fontane beschrieb, dass er die Landschaften wie ein „bewegtes Panorama“ erlebte. Dem Leser wollte er einen „Panoramablick“, einen offenen Fokus, vermitteln, um die „Landschaft als ein harmonisches Ganzes“ zum erleben. Auf mich wirkt schon ein Spaziergang im schönen Schlosspark Charlottenburg erfrischend. Die klare Frühlingsluft bringt mich zu Lächeln, ebenso wie der Duft der Blüten, auch wenn der Verkehr in der Ferne zu hören ist. Meine Haut spürt die Wärme oder Kühle der Brise, ich höre die Nuancen von Vogelgezwitscher, die Stille und das Rascheln der Blätter. Meine Augen erfreuen sich an der Vielfalt der Farben und Formen. Ich erlebe mich als Teil eines größeren Ganzen. Es fällt mir leicht, meinen Körper und meine Sinne zu bewohnen.
Natur macht uns präsent. Ähnlich wie beim Meditieren, fordert die Natur, dass wir aufmerksam sind und unser Denken vereinfachen. Viele Werke der Literatur und Kunst behaupten, dass der Geist dort zur Ruhe kommt und Platz für neue Ideen schafft. Indem wir uns auf das, was direkt vor uns ist, einlassen, werden wir präsent. Wir nehmen das Leben direkt wahr, den Sonnenschein, die Brise, die Geräusche, die Gerüche, und finden einen neuen Fokus. Wenn dann unsere innere Landschaft mit der natürlichen Landschaft schwingt, verringert das unseren Drang etwas zu tun. Wir dürfen so sein, wie wir sind. Das verlangsamt unseren Herzschlag, reduziert die Stresshormone und hilft unserem Gehirn, sich auf Ruhe und natürliche Wachsamkeit einzustellen. Untersuchungen zufolge kann das Barfußlaufen im Gras unsere Ängste und Depressionen um 62 Prozent verringern. Die amerikanische Journalistin und Sachbuchautorin Florence Williams berichtet im Buch The Nature Fix, dass wir nach eineinhalb Stunden, weniger grübeln. Das macht uns glücklich und steigert unser Wohlbefinden.
Die Natur ist immer bewegt, sie ändert sich ständig. Sie keimt, passt sich an, stirbt und wächst immer wieder nach. Sie zeigt uns, was es bedeutet, lebendig zu sein. Wir erinnern uns an die Erlebnisse in der Natur, die uns berührt haben. Vielleicht waren es die Knospe einer Blume, die Unverrückbarkeit eines Bergs, ein Sonnenuntergang, sanft oder wild fließendes Wasser. Nehmen wir das Vogelgezwitscher, den Wind oder die Wellen wahr, ohne über die Quelle des Geräuschs nachzudenken, erleben wir die Natur als eine Art Meditation. Wir können unseren Tastsinn einbeziehen, indem wir die Erde unter unseren Füßen, die Brise auf unserer Haut oder das Kitzeln der Mücken spüren. Die Erfahrung des Sehens kann uns ebenfalls beim Präsentsein unterstützen. Dann können wir unser gewohntes Gedankenkarussell ruhen lassen und uns auf das Rauschen des Windes in den Bäumen, die Festigkeit der Erde unter unseren Füßen oder die Wärme der Sonne auf unserem Gesicht einlassen und damit eins werden. Am Montag werde wir die Meditation Einlassen auf die Kraft der Erde üben.
Gerald Blomeyer, Berlin 12. Mai 2022