„Das Leben kann sein wahres Potenzial erst entfalten, wenn wir auf das achten, was gerade vor uns liegt.“ – Cal Newport, Professor für Informatik an der Georgetown University
„Die Qualität unserer Erfahrung wird durch den Fokus unserer Aufmerksamkeit bestimmt.“ – Cheri Huber, Zen-Lehrerin
„Die sozialen Medien sind so konzipiert, dass sie sich ständig an unsere Interessen anpassen. Kein Wunder, dass der Rest der Realität nicht mithalten kann.“ – Oliver Burkeman, Autor und Journalist


Aufmerksamkeit als Ware

Unsere Aufmerksamkeit ist wertvoll. Wir brauchen sie, um gesund, freudig und erfüllt zu leben. In der Meditation lernen wir, sie zu lenken und zu schützen. Das muss trainiert werden, indem wir erkennen, wann und wodurch wir abgelenkt werden. Das ist schwierig, weil wir darauf programmiert sind, mit Ablenkungen zu leben.

Die meisten Menschen schauen schon nach dem Aufwachen auf ihr Handy. Sie sind zu ständigen Begleitern geworden, denn sie bieten uns zu jeder Zeit Musik, soziale Medien, Videospiele usw. Wir brauchen nie mit unseren Gedanken und Erfahrungen allein zu sein. Ein ständiger Strom von Unterbrechungen und Ablenkungen lockt unsere Aufmerksamkeit. Wir können uns augenblicklich über Ereignisse informieren oder uns präsentieren, wie wir wollen. Wir lassen uns „in einem Reich treiben, in dem der Raum keine Rolle spielt und die Zeit sich zu einer endlosen Gegenwart ausbreitet“, kommentiert der US-Autor James Duesterberg. „Nur in der virtuellen Welt sind die Möglichkeiten endlos.“

Ablenkung erleichtert

Jeder will gesehen und gehört werden und sich zugehörig fühlen. Netzwerke wie Facebook bieten ihren Nutzern ein halb-kollektivistisches Modell der Aufmerksamkeit. Die Nutzer posten, was sie wollen. Sie sehen die Beiträge ihrer „Freunde“ im Netzwerk, unabhängig von der Qualität der Inhalte. Alles wird sofort wahrgenommen. Die Tatsache, dass jeder Benutzer gesehen und gehört wird bzw. Aufmerksamkeit erzielen kann, ist eine versteckte Revolution. Die sozialen Medien haben unsere Aufmerksamkeit neu verteilt und damit die kulturelle Landschaft umgestaltet.

Wir können kostenlos Apps benutzen, weil die Betreiber unsere Aufmerksamkeit über Cookies als Surfverhalten analysieren und an Werbetreibende verkaufen. Viele psychologische Techniken der Apps wurden von den Designern der Spielautomaten in Casinos übernommen, um zwanghaftes Verhalten zu fördern. „Likes“ können süchtig machen. Mit jedem Like schüttet das Gehirn, wie beim Konsum von Alkohol und Zigaretten sowie beim Glücksspiel, Dopamin aus. Wer einen Strom von Likes und Kommentaren gewohnt ist, die bestätigen „ich bin wichtig und werde gesehen“, findet normale soziale Interaktion herausfordernd leise. Sie überflutet uns nicht mit Herzchen, sondern entsteht in einem Vakuum, dass wir füllen müssen.

Gegen die dauernde Ablenkung empfehlen viele Strategien, den Zugang zu den Geräten, die wir benutzen, einzuschränken. Das funktioniert aber nur selten, weil sie nicht den Drang nach Bestätigung berücksichtigen. Und: Abgelenkt zu werden, wirkt erleichternd, weil wir dem Druck ausweichen können. Wirkliche Ruhe finden wir nicht, wenn unser Posteingang leer ist, sondern, wenn wir Frieden in unserem Geist finden.

Eine Stunde auf Facebook zu verbringen, bedeutet, dass wir aufmerksam verschlingen, was uns am verlockendsten ist. Im Internet ist Inszenierung alles. Längst haben wir im Kopf ein verzerrtes Bild der Welt geschaffen. Das prägt auch, wie wir unsere Offline-Zeit nutzen. Frances Haugen, die als Produktmanagerin bei Facebook arbeitete, sagte, die Firma stelle „Wachstum über Sicherheit“ . Instagram wirke z.B. negativ auf die psychische Gesundheit von Teenager-Mädchen, die sich ihres Körpers schämten.

Unangenehmes darf so sein

„Fear of missing out“ (FOMO) ist die Sucht, anerkannt zu werden. Es ist die Angst, irgend etwas zu verpassen, z.B. eine soziale Interaktion oder eine ungewöhnliche Erfahrung. Um diese Angst in Griff zu bekommen, gilt in der Meditation als der effektivste Weg, sie zu bemerken, zu akzeptieren und die Unannehmlichkeiten, die dazu gehören, willkommen zu heißen. Es ist paradox, dass sich die Beschränkungen der Realität nicht mehr so einschränkend anfühlen, wenn wir sie mit offenem Fokus akzeptieren. Wenn wir uns tief auf den Augenblick einlassen, scheint unser Ego zu verschwinden. Wer sich einlässt, kann sich lange ohne Mühe konzentrieren. Es geht nicht darum, die Umstände zu ändern, sondern die Art, wie wir sie wahrnehmen. Wer die Situation anders versteht, kann Stress vermeiden. In der Meditation am Montag üben wir das, indem wir der Angst begegnen. Das ist wichtig, denn liebendes Mitgefühl entsteht nur in Abwesenheit von Angst.

Gerald Blomeyer, Berlin im Januar 2022

Photo by Nubelson Fernandes on Unsplash

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