Nutze die Tonglen-Praxis, um zu erfahren, wie du deinen Ärger oder deine Angst oder Einsamkeit in eine Wiege der liebenden Güte legen kannst.
Pema Chödrön
Panzer ersticken den Mut und sperren unsere Herzen ein. Das Ziel ist es, Raum zu schaffen, in dem ein Panzer weder notwendig ist noch belohnt wird.“ – Brené Brown


Wir neigen dazu, das „Ich“ als Mittelpunkt unseres Lebens zu sehen. Unser Wohl ist uns wichtiger als das der anderen. Die buddhistische „Praxis des Gebens und Nehmens“ (Tibetisch: tong len) üben wir, um uns in die/den anderen zu versetzen und ihn/sie damit als gleichwertig anzuerkennen. Anfangs motivieren wir uns, indem wir uns die negativen Auswirkungen des Egoismus auf uns und andere vergegenwärtigen. Anschließend reflektieren wir über die positiven Auswirkungen einer uneigennützigen Haltung zum Wohle aller. Wir nehmen das Leid der anderen auf uns und senden ihnen unser Glück.

Der Dalai Lama schreibt: Wer an das Wohlergehen anderer denkt, sollte bereit sein, Leiden auf sich zu nehmen. Wir sollten das Glück gleichermaßen für uns und für andere suchen. Wer Mitgefühl für andere entwickeln will, sollte zunächst die eigenen Gefühle anerkennen und für das eigene Wohlergehen sorgen. Erst dann können wir uns um andere kümmern. Tonglen umfasst die Praxis der liebenden Güte und des Mitgefühls: Die Praxis des Gebens betont die liebende Güte, während die Praxis des Nehmens das Mitgefühl betont. Diese Übung hilft uns, den Unzulänglichkeiten der Selbstbezogenheit zu begegnen. Indem wir Liebe für uns und andere empfinden, weiten wir unsere Sicht der Realität.

Wir stellen uns einen Panzer um unser Herz vor. Er steht für alles, was wir schwer akzeptieren können: Arroganz, Egoismus, Selbstsucht und Selbstmitleid. Dieses Band der Angst verhärtet unser Herz. Die Meditation lädt uns ein, den Panzer aufzulösen und unser Herz für den natürlichen, nicht wertenden Zustand der Wärme, Freundlichkeit und Weite zu öffnen. Wir stellen uns vor, dass der Panzer beim Einatmen auseinanderbricht, wenn er vom Leiden berührt wird. Wenn sich das Herz öffnet, löst sich alles Schwere im weiten Raum auf und gibt Liebe und Mitgefühl frei.

Spontan-Tonglen

Tonglen ist sowohl eine formale als auch eine spontane Meditationspraxis. Wenn wir jemanden begegnen, der Schmerzen hat, können wir diesen Schmerz einatmen und Gesundheit und Glück senden. Wir fühlen mit, indem wir das, was wie „Gift“ aussieht, als Medizin nutzen, um unser Herz zu öffnen. Unser persönliches Leiden können wir so als Weg zum Mitgefühl für alle Wesen nutzen. Wir empfinden Liebe für uns selbst und andere, kümmern uns um uns selbst und andere.

Die heutige US-Professorin für Buddhismus Daphna McKnight arbeitete Anfang 2000 in einem großen Unternehmen. Sie hatte Tonglen gelernt, aber nicht oft praktiziert. Eines Tages stritten sich zwei Teams in einer Besprechung heftig. Zuerst regte sie sich mit auf. Dann erkannte sie, dass alle versuchten, ihre Probleme auf Kosten der anderen zu lösen. Sie begann heimlich Tonglen zu üben. Bald beruhigten sich alle und die Probleme wurden gelöst. Danach übte sie in jeder Sitzung heimlich Tonglen. Einige Monate später traf sie zwei Manager, die auf dem Weg zu einer Sitzung waren. Sie sagten ihr scherzhaft, sie solle besser mit ihnen kommen, denn immer wenn sie bei Besprechungen anwesend sei, würde sie eine konstruktive Atmosphäre und gute Ergebnisse schaffen. Das regte die Managerin an, darüber eine Dissertation zu schreiben.

Geteiltes Leid ist halbes Leid

Wenn wir leiden, erscheint uns das als etwas Persönliches. Wenn wir uns zu stark darauf konzentrieren, können wir verzweifeln. Indem wir unser Leiden, unsere Wut, Hilflosigkeit und Frustration, unsere Zweifel und Ängste annehmen, ändern wir unser Verhältnis zu ihnen. Der erste Schritt zu Tonglen ist deshalb, an andere zu denken, wenn wir Schmerzen fühlen. Gehen wir liebevoll mit unserem eigenen Leiden um, können wir andere verstehen. Meine Frau Eva Etta litt an Krebs. Sie stellte sich vor, das Leiden aller Krebskranken auf sich zu nehmen, löste es in der Liebe ihres Herzens auf und schickte ihnen ihr Licht und ihre Liebe. Ihre Krankheit bekam für sie so einen Sinn. Sie fühlte sich nicht allein, sondern tief mit anderen verbunden. Es wirkte es heilsam auf ihren Geist.

Geteilte Freude ist doppelte Freude

Wir sind bereit, bedingungslos unser Wohlbefinden und Glück mit anderen zu teilen. Wer diese Praxis übt, weitet das Mitgefühl auf natürliche Weise aus. Dann können wir erkennen, dass die Dinge nicht so festgezurrt sind, wie wir glauben. Wir trennen nicht länger in uns und andere. Mit der Zeit stellen wir fest, dass wir selbst in Situationen, die wir uns nicht vorstellen konnten, für andere da sein können. Das hilft uns Feindbilder aufzulösen. Wir rücken verklärte Vorstellungen unserer Geliebten in ein realistisches Licht. Zu Menschen, die uns egal waren, können wir einen engen Kontakt knüpfen. Wir üben, alle Wesen als gleichwertig zu sehen. Das ist die Grundlage, um unser Herz zu öffnen. Am Montagabend, werden wir Selbstmitgefühl und einfaches Tonglen üben.

Gerald Blomeyer, Berlin, 16.12.2021

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