„Wer wir sind und wer wir werden, hängt zum Teil davon ab, wen wir lieben.“ – Thomas Lewis, A General Theory of Love
„Sich einlassen ist weder Schwäche noch Verlust. Wir lernen, wann wir etwas loslassen können und wann nicht. Das ist die Kunst des Fließens.“ – Judith Orloff

Wenn wir lieben, geben wir uns hin. Wir sind offen, wir vertrauen und lockern die Kontrolle. Vernunftgeleitete Menschen möchten aber alles kontrollieren und lassen sich deshalb nicht gern ein. Der englische Philosoph Alan Watts hat auf das Paradoxon hingewiesen: Wir können uns nicht gleichzeitig konzentrieren und über die Konzentration nachdenken. Entweder beobachten wir sie, oder wir konzentrieren uns. Konzentration erfordert ein Maximum an Bewusstheit und ein Minimum an Ich.

Sich zu konzentrieren und zu lieben, erfordert, dass wir uns einlassen. Wer „Ich liebe dich“ sagt, und sich dabei auf das „Ich“ konzentriert, kann nicht erleben, wenn es funkt. Erst wenn wir uns einlassen, können wir erkennen, dass das Leiden des anderen auch unser Leiden ist, und unser Glück ihr Glück ist. Lieben akzeptiert die Stärken und Schwächen von uns und dem anderen.

Wir lieben nur im Hier und Jetzt

Vergangenheit und Zukunft sind Gedanken, die nur im Jetzt existieren. Wir leben nur im Augenblick, und dieser Augenblick ist unendlich. Der Augenblick ist die einzige Realität, er selbst ist Teil des Augenblicks. Zu Lieben bedeutet, die Liebe im Augenblick zu erleben, in dem wir uns ohne nachzudenken einlassen.

Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat in seinem autobiographischen Werk „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ (1908) jedes Ereignis seines Lebens als ein „ich wollte es so“ gedeutet. Das Leben zerfällt und entsteht erneut. Es ist ein Prozess des stetigen Werdens, bei dem nichts gleich bleibt. Alles ist veränderlich. Nur wer willkommen heißt, was im Augenblick geschieht, braucht weder zu zweifeln noch zu bedauern. Indem wir das lieben, was da ist, können wir dem Leben mit Zuversicht und Selbstvertrauen begegnen, so als ob wir einem Musikstück zuhören.

Mit den Dingen zu fließen, bedeutet, nicht zu kämpfen, Widerstand zu leisten oder sich zurückzuhalten. Wir geben uns ganz und gar einer Sache hin, ohne etwas erzwingen zu wollen. Wer jeden Augenblick nutzen will, muss loslassen können. Wenn wir nachts einschlafen, lassen wir los, ebenso wenn wir lachen, weinen oder bei einem Verlust trauern. Viele Menschen nutzen Krisen, um sich zu verändern. Wir lassen los, wenn eine Beziehung oder unsere Gesundheit versagen und es nicht mehr weitergeht. Sich der Freude hinzugeben, bedeutet, nicht nur im Kopf zu sein und Probleme zu lösen oder zu denken. Uns daran zu erinnern, ist das Geheimnis des Lebens.

Lieben bedeutet auch, bereit zu sein weiterzugehen

Beziehungen sind der fruchtbarste Schmelztiegel für Wachstum und Veränderung. Zwei Personen, die sich lieben, schwingen emotional miteinander. Jeder beeinflusst den anderen. Oft sind wir unwillig, uns von einer verletzenden Person zu trennen, da wir glauben, dass sich Menschen ändern. Wer auf Veränderung hofft, ist optimistisch. Doch Menschen können sich auch zum Schlechteren verändern.

Kein Mensch hat es nötig, in einer Beziehung bleiben, in der man respektlos oder grausam behandelt wird. Die deutsch-amerikanische Publizistin Hannah Arendt und ihre Freundin Mary McCarthy diskutierten in ihrem Briefwechsel darüber. Arendt warnte vor den „krummen Korkenziehern des Herzens“, die uns in schmerzhaften Beziehungen halten. Eine falsche Verzauberung kann mit ihrer giftigen Ausdauer ein Leben zerstören. Wir nehmen den großen Herzschmerz von Beziehungen in Kauf, weil wir glauben, jemanden aus seinem Trauma heraus lieben zu können. „Du kannst von jemandem, der dich liebt, nicht erwarten, dass er dich weniger grausam behandelt, als er sich selbst behandeln würde,“ schreibt Arendt. Wenn die Liebe mit Selbstliebe beginnt, dann erfordert aufrichtige Liebe, dass wir bereit sind, loszulassen.

Wer achtsam ist, kann seinen Verstand zur Ruhe bringen und sich auf die Liebe einlassen. Das öffnet Herz und Verstand. So kann ein umfassendes Mitgefühl für die Welt entstehen und das, was wir bedingungslose Liebe nennen. Die Meditationen am Montag sind der Liebe gewidmet. Wir beginnen mit Einlassen auf die Liebe – eine Kontemplation 

Gerald Blomeyer, Berlin, 21. Oktober 2021

Bild von Manfred Antranias Zimmer auf Pixabay

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