„Wir sehen nicht die Realität. Wir sehen nur das, was in der Vergangenheit nützlich war, um sie zu sehen.“ – Beau Lotto, Professor für Neurowissenschaften

„Glaubenssätze sind die Brille, durch die wir die Wirklichkeit sehen.“ ― Stefanie Stahl, Psychologin und Therapeutin

Unsere Erinnerungen bestimmen das, was wir sehen. Was wir früher erlebt und gedacht haben, schwingt in allem mit, was wir jetzt wahrnehmen. Das beeinflusst auch unsere künftige Sicht der Dinge. Wir neigen dazu, die Welt so zu sehen, dass sie unseren emotionalen Zustand bestätigt. Wenn unsere Stimmung traurig oder verängstigt ist, interpretieren wir unsere Umgebung entsprechend. Der Tod eines geliebten Menschen, eine Scheidung, Arbeitslosigkeit oder eine Midlife-Crisis können uns verunsichern – was unsere Wahrnehmung noch weiter beeinflussen kann.

Was wir wirklich suchen, ist Vertrautheit

Auch in der Liebe nehmen wir oft eine Version der Realität wahr, mit der wir vertraut sind. Manche heiraten deshalb sogar die falsche Person, glaubt Alain de Botton, Gründer der School of Life und Bestseller-Autor: „Unser Verständnis von Liebe wird durch die ersten verführerischen und ergreifenden Augenblicke irregeleitet und getäuscht.“ Wir glauben, dass wir Glück in der Ehe suchen, sagt de Botton, aber was wir wirklich suchen, ist Vertrautheit. Wir wollen in unseren erwachsenen Beziehungen die Gefühle wiederfinden, die wir in unserer Kindheit erlebt haben. Deshalb verwechseln wir oft Liebe mit einer anderen, destruktiven Dynamik: das Gefühl, einem Erwachsenen helfen zu wollen.

Unsere Annahmen machen uns zu dem, was wir sind. Unsere eigene bewusste Identität fühlt sich dann bedroht, wenn wir angezweifelt werden. Unsere Weltsicht basiert auf unsicheren Informationen, Erinnerungen, Glaubenssätzen, Erwartungen und Gefühlen. Sie bestimmen, wie wir handeln und wahrnehmen. Wir müssen anpassungsfähig sein, um zu überleben. Doch das fällt uns oft schwer, denn Gewohntes lässt sich viel einfacher ausführen. Deshalb warten wir gern ab, bis eine Katastrophe eintritt. Sie zwingt uns schließlich, unsere alten Annahmen zu hinterfragen, zu verwerfen und neue anzunehmen.

Unsere Ängste entstehen aus dem Gefühl, dass wir und andere getrennt seien. Wer uns ablehnt, stellt unsere Identität in Frage. Deshalb ist es für viele leicht, vor einer Gruppe von Freunden, aber schwierig, vor einer großen Menschenmenge zu singen. Wir wollen bestätigt werden, und bei Freunden erwarten wir eher Zuspruch. Wenn wir Informationen interpretieren, sollen sie unseren Standpunkt bestätigen. Das zeigen wir auch in der Art, wie wir argumentieren und uns in Beziehungen verhalten. Diese Neigung strukturiert sowohl das, woran wir uns erinnern, als auch unsere – oft falschen – Vorstellungen von uns selbst. Das Gleiche gilt auch für gesellschaftliche Gruppierungen. Die Gleichberechtigung der Frauen, beispielsweise, wurde zwar vor allem von Männern gebremst, aber auch von Frauen, die glaubten, intellektuell unterlegen zu sein.

Im Zorn fühlen wir uns im Recht

Industrien brechen zusammen und neue entstehen. Unsere Beziehungen zu Freunden, Familie und Liebespartnern ändern sich. Wenn wir uns vor Ungewissheit ängstigen, halten wir fest. Vielleicht werden wir wütend. Im Zorn fühlen wir uns im Recht. Wir erleben physiologische Veränderungen, angespannte Muskeln, beschleunigten Herzschlag, erhöhten Blutdruck und eine schnellere Atemfrequenz. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf das Ziel der Wut und kaum noch auf etwas anderes. Eine verärgerte Person grübelt oft noch lange weiter, wobei weitere Neurotransmitter und Hormone im Gehirn ausgeschüttet werden (u.a. Adrenalin und Noradrenalin). Unsere kriegerische Erregung steigert sich im Glauben, wir seien im Recht.

Am Montag 13.09.2021 werden wir die Meditation „Klarheit durch Loslassen“ üben. Das Herz lässt die Geschichten und Ängste des Geistes zu, ohne an sie zu glauben oder sie erfüllen zu müssen. In der innewohnenden Stille können wir die grundlegende Güte unserer ursprünglichen, weiten Natur erleben.

Gerald Blomeyer, Berlin, 9. September 2021

Foto (c) Stephen Kraakmo auf Unsplash

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