„Je mehr wir Negatives offen und voller Mitgefühl aufnehmen, um so mehr Güte können wir ausatmen. Wir haben also nichts zu verlieren.“
– Chogyam Trungpa Rinpoche
 
Der Atmen verbindet uns mit der Welt. Wir atmen die Energie der Welt ein und atmen unsere Energie aus. Wir und die Welt sind dadurch existenziell miteinander verbunden. Doch manchmal fühlen wir uns einsam und von der Welt getrennt, etwa wenn wir Schmerzen empfinden oder an einem Mangel leiden. Wenn wir aber Einsamkeit oder Schmerzen fürchten oder hassen, verstärken wir deren Griff auf unseren Geist. Begrüßen wir sie hingegen mitfühlend, können wir auf unser Leiden fürsorglich und freundlich eingehen und sie in Liebe transformieren. 
 
Geteiltes Leid ist halbes Leid
 
Tonglen ist tibetisch. Mit dem Atem „geben“ (Tong) und „nehmen“ (Len) wir. In dieser Meditation atmen wir den Schmerz und das Leiden von uns und anderen ein. Wir wandeln es im Herzen und senden Liebe und Mitgefühl aus. Dadurch erkennen wir, dass unser Leiden uns mit anderen Menschen verbindet, die ähnliches erlebt haben. Bei Krankheit denken wir meist nur an unser Leiden. Wir glauben, dass wir die einzige Person auf der Welt sind, die eine schwere Zeit durchmacht. In den letzten Monaten vor ihrem Tod praktizierte meine Frau Eva Etta  Tonglen für alle, die an Krebs litten. Ihr Ziel war es nicht, noch mehr Leiden aufzunehmen, sondern ihr Herz für die schmerzhaften Erfahrungen anderer zu öffnen. Das Mitgefühl gab ihrem Schmerz einen Sinn, da sie sich mit anderen Menschen verbunden fühlte, die auch litten. Das Aussenden von guten Wünschen und Mitgefühl durchbrach ihr Gefühl isoliert zu sein. Das wirkte sich positiv auf ihre Stimmung aus.
 
Leiden in Freude umwandeln
 
Tonglen transformiert unser Leben, indem wir üben, mit schwierigen Gefühlen und Beziehungen umzugehen, die wir normalerweise ablehnen. Im Alltag gibt es viele Gelegenheiten, die unsere Liebe und Mitgefühl brauchen, z.B. bei einem Streit mit dem Partner oder Chef. Aber wir können mit dem Konflikt geschickter umgehen: Wenn wir geübt sind, atmen wir die schmerzhaften Gefühle ein und senden ein Gefühl von Weite und Entspannung aus. Das machen wir für uns, für die Person, die uns anschreit, und für alle anderen Menschen, die in einer ähnlich Situation sind. 
Was sich wie eine Blockade anfühlt, wird als Samen des Erwachens im Herzen aufgehen. Dabei geht es nicht nur um andere Menschen, sondern auch um uns. Die Praxis von Tonglen hilft, z.B. einem emotionalem Burnout vorzubeugen. Wir gehen mit uns selbst liebevoll und fürsorglich um. Nächstes Mal, wenn du glaubst, die Probleme der Welt nicht mehr ertragen zu können, werde zum Alchemisten: Atme Leiden und Chaos ein, transformiere es und schicke der Welt – und dir – Liebe und Frieden.

Gerald Blomeyer, Berlin 2. Mai 2021

Pin It on Pinterest

Share This